Finish - Roman
vom Erdboden verschluckt, und mit ihm seine unschätzbare Sammlung französischer Maler und Ming-Vasen: Das Haus war leer, komplett ausgeräumt. Nur noch ein paar Möbel und ein Dutzend ratloser schwarzer Diener waren übrig, die nichts weiter wussten, als dass »der Massa« das Haus am Morgen des 8. März wie gewöhnlich verlassen hatte und seitdem nicht wieder zurückgekehrt war. Das war nicht ungewöhnlich, denn Wagstaffe hegte eine besondere Vorliebe für dunkelhäutige mexikanische »Serviererinnen« und verschwand manchmal tagelang, um dieser Leidenschaft zu frönen. Das Rotlichtviertel wurde durchkämmt – erfolglos. Zwar war A.P. Wagstaffe wohlbekannt und hatte hier so manche Nacht mit mexikanischen Mädchen in den einschlägigen Opiumhöhlen verbracht, doch jetzt hatte man ihn nicht gesehen.
Die Neuigkeit von Wagstaffes Verschwinden traf Moriarty und seine Truppe wie ein Schlag in die Magengrube. 125 000 Dollar waren in Wagstaffes Tresor gewesen, alles, was sie in den vier Jahren gnadenloser Lauferei verdient hatten. Zwar blieben ihnen noch 10 000 Dollar Wettgewinn aus Barnsley, doch das deckte mit Ach und Krach die laufenden Kosten. Das ›Theater des Westens‹ war für immer verloren, tief vergraben in A.P. Wagstaffes Satteltaschen. Sie standen wieder ganz am Anfang.
Nach dem ersten Schock kam Moriartys Einfallsreichtum allmählich wieder auf Touren. Am 14. März setzte er sich mit Buck und Billy Joe im Künstlerzimmer des Niblo’s zusammen, um zu beratschlagen. Schweigend hockte er da, das Kinn in die Hände gestützt, den Blick starr geradeaus gerichtet.
»Mexiko«, sagte er schließlich unvermittelt.
»Wieso Mexiko?«, fragte Billy Joe.
»In den Polizeiberichten war nie davon die Rede, dass Wagstaffe sich per Boot gen Westen Richtung China abgesetzt hat – der hasst die Chinesen, und wer will schon in China leben? Wenn er nach Osten geht, kriegen ihn die Jungs von Pinkerton todsicher. Nein, A.P. Wagstaffe hatte immer schon eine Schwäche: Mexikanerinnen, von denen ist er geradezu besessen.«
»Woher sollen wir wissen, dass er unser Geld noch hat?«, fragte Buck.
»Das wissen wir nicht«, entgegnete Moriarty. »In den Zeitungen heißt es, er hätte mehr als eine Million bei Pferderennen und Kartenspielen verzockt. Das Bankvermögen belief sich auf mehr als anderthalb Millionen. Davon ist garantiert noch was übrig. Damit ist Wagstaffe jetzt schnurstracks nach Mexiko unterwegs. Jede Wette.«
Und so machten sich Buck und Billy Joe noch am selben Tag per Zug auf den Weg Richtung Westen. In Albuquerque würden sie sich zwei Pferde besorgen und nach Mexiko reiten. Sobald Moriarty alles Nötige in New York geregelt hätte, käme er nach.
Wenige Tage nach Moriartys Abreise brach Eleanor als Gertrude in der Schlafzimmerszene mit Hamlet wie immer ohnmächtig auf dem Bett zusammen. Doch diesmal stand sie nicht wieder auf. Der Vorhang wurde hastig geschlossen und ein Doktor herbeigerufen. Einen Tag darauf wurde die Truppe in Kenntnis gesetzt, dass Hamlets Mutter im dritten Monat schwanger war.
Chihuahua, Mexiko, 25. April 1878
Carlo Montes biss dem Hahn den Kopf ab und spuckte ihn in die blutgetränkten Sägespäne. Er hasste Läufer. Es hieß, spanische Hähne liefen nicht, doch dieser war gelaufen und hatte ihn um 2000 Pesetas ärmer gemacht.
Montes schleuderte den zuckenden Vogelkadaver in die Arena und wischte sich mit einem blütenweißen Seidentaschentuchbehutsam das Blut von den Lippen. Er stieg die knarrenden Stufen zu den vier vollbesetzten hölzernen Zuschauerrängen empor und drängelte sich, noch immer seinen Mund betupfend, zur vordersten Reihe durch. Gedankenverloren nahm der dicke, gemütliche Mexikaner Platz, während um ihn herum wild auf den nächsten Kampf gewettet wurde. Er sah zu, wie die beiden Hähne, ein grauer und ein schwarzer, von ihren Dresseuren rund 50 Zentimeter voneinander entfernt auf den Kampfplatz gesetzt wurden, um aufeinander einzuhacken. Die beiden Vögel hatten einander noch nie gegenübergestanden, doch sie waren bereits Todfeinde.
Montes blickte sich um. Überall schwitzende Tagelöhner, Abschaum aus Chihuahua, Gestank wie in einem Schweinestall, doch dazwischen auch feine Leute, die eigens aus Mexiko-Stadt angereist waren.
Das war der Reiz am Hahnenkampf, dem vielleicht einzig wahren Wettkampf, den der Sport überhaupt noch zu bieten hatte, dachte Montes.
Auf dem obersten Rang saßen zwei junge amerikanische Hilfssheriffs, die gerade gekommen waren.
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