Finish - Roman
enge Deck der S.S. Troy . Am ersten Tag bestritten sie zwei Meilen in bescheidenen zwölf Minuten, doch schon nach einer Woche hatten sie sich um eine Minute verbessert und brachten es nach einer weiteren Woche auf zehn Minuten.
Deerfoot war zweifellos ein echter Spitzensportler, der als erster Mensch überhaupt sechs Meilen in weniger als einer halben Stunde zurücklegte. Moriarty befürchtete lediglich, dass der kluge, eloquente, im Profisport jedoch ziemlich unerfahrene Deerfoot der unbarmherzigen englischen Läuferwelt nicht gewachsen war. Barnum kannte sich in England ein wenig aus und hatte Moriarty von einem finsteren Sumpf erzählt, in dem Manipulationen und »Blender« an der Tagesordnung waren und Läufer mit Drogen »lahmgelegt« oder bestochen wurden. In so einer Welt konnte ein argloser, aufrichtiger Sportler wie Deerfoot vor die Hunde gehen.
Die dreiwöchige Reise bot reichlich Zeit für Proben, obgleich Edwin mithilfe seines Agenten dafür gesorgt hatte, dass die meisten Nebenrollen in England besetzt würden. Booth und Moriarty probten Richelieu , Richard III . und Hamlet , und sämtliche weiblichen Rollen wurden von Booths inzwischen hochschwangeren Frau Mary gespielt. Moriartys Erstaunen darüber konterte Mary Booth mit zahllosen Anekdoten von Schauspielerinnen, die bis kurz vor der Entbindung auf der Bühne gestanden hatten. Ihr würde dies glücklicherweise erspart bleiben, schließlich wollte ihr Mann für jede Inszenierung englische Schauspieler engagieren.
Edwin Booth war das schauspielerische Gegenteil seines Vaters. Er hatte mit Junius Brutus’ Ritt durch die großen Rollen, deren Schlüsselmonologe mit besonders großem Pathos vorgetragen worden waren, nichts am Hut. Edwin besaß eine innere Unruhe und ungerichtete Energie, die bei jedem seiner Auftritte unter der Oberfläche brodelten.
Bedauerlicherweise war die manische Seite seines Vaters dafür umso tiefer in Edwin verankert. Moriartys Bitten um Mäßigung zum Trotz trank er fünf Flaschen Wein am Tag und führte ein seit jeher äußerst ausschweifendes Sexualleben. Wenn man Booth und Deerfoot miteinander verglich, war der Schauspieler trotz seines Erbes und seiner dramatischen Fähigkeiten sicher der größere Zweifler von beiden. Hatte er die richtigen Stücke, die besten Bühnen gewählt? Würden die Nebenrollen gut besetzt, die Bühnenbilder und Kostüme angemessen sein? Was wusste das englische Publikum bereits von ihm? Diese Fragen quälten den grüblerischen Booth die ganze lange Seereise über.
Der arglose Deerfoot hatte derlei Zweifel nicht. Er hatte herausgefunden, dass die perfekt auf Zweikämpfe und große Handicap-Läufe gedrillten englischen Läufer zwischen den Wettkämpfen jegliche Disziplin vergaßen und sich in den Kneipen, den Hochburgen des englischen Läufertums, vollkommen gehen ließen. Deerfoot war aus anderemHolz geschnitzt. Er stammte aus einer Kultur, in der das tägliche Laufen eine unerlässliche Lebensgrundlage war.
Und er hatte noch ein weiteres Ass im Ärmel. Die britischen Läufer, die an die Ostküste gekommen waren, besaßen nur eine Taktik – sie liefen von Anfang an mit einer gleichmäßigen, ausdauernden Pace. Doch Deerfoot hatte sich eine andere Technik antrainiert. Sie bestand in regelmäßigen Tempowechseln über 200 bis 600 Meter, die den Rhythmus der anderen Läufer brechen sollten. Diese Taktik würde die bornierten, konservativen Engländer aus allen Wolken fallen lassen.
Schon bald teilte Edwin Booth Moriartys Sympathie für Deerfoot, und an ihrem abendlichen Tisch war der Seneca ein gerngesehener Gast. Als sie am Morgen ihrer Ankunft in Liverpool an Deck beim Frühstück saßen, schlossen Moriarty und Deerfoot einen Freundschaftspakt. Schließlich waren sie beide nach England gekommen, um berühmt und erfolgreich zu werden.
»Mögen deine Vorhaben von Erfolg gekrönt sein«, sagte Deerfoot. »Ich werde für dich beten und dich im Auge behalten.«
»Ich dich ebenfalls«, sagte Moriarty und schüttelte dem Indianer die Hand.
Der Tourbeginn war ein Debakel. Kaum hatte Booth den Fuß auf festen Boden gesetzt, musste er feststellen, dass ihn während der Überfahrt nach Großbritannien entscheidende Briefe nicht erreicht hatten. Bei der Buchung einiger Theater hatte es Probleme gegeben. Sein englischer Geschäftsführer Alfred Thrush war krank gewesen. Die Londoner Theater hatten eine miese Wintersaison hinter sich. Zu allem Überfluss waren die Briten hinsichtlich des
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