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Finish - Roman

Finish - Roman

Titel: Finish - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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Viertelmeilen-Markierung vorbeizogen, wo Barnum, Moriartys Vater und Edwin Booth mit Latours Förderern neben ihren dampfenden Pferden standen, wurde der Schnee dichter, er blieb auf Moriartys Brauen hängen und rann ihm wie Tränen in die Augen.
    »69,70«, brüllte Barnum, während Latours Leute ihren Mann anwiesen: »Bleib dran, Junge!«
    Dann drehte er sich um, schwang sich gemeinsam mit Booth und Cameron in den Sattel und stob durch Schnee und Nebel weiter zur Halbmeilen-Markierung.
    Das Tempo war schnell, der Schnee fiel in dichten Flocken, als sie in die lange Linkskurve Richtung Halbmeilen-Markierung einbogen, und der feste Untergrund war mit einer lockeren, rutschigen Schneeschicht bedeckt. Moriarty heftete sich verbissen an Latours rechte Schulter, und sein weißes Hemd und die ebenfalls weißen Long Johns dampften, als sie sich der Halbmeilen-Markierung näherten.
    Plötzlich bemerkte Moriarty, wie Latour nachließ, und ehe er sich’s versah, war er in Führung, trabte vornan durch die weiße Wand aus fallendem Schnee, spürte seinen immer heftigeren Atem, den brennenden Schweiß in Gesicht undNacken. Irgendwo in der Ferne konnte er das Johlen der Menge hören, die zwar noch immer nichts von den Läufern sah, doch anhand ihrer Uhren wusste, dass die beiden allenfalls noch zwei Minuten entfernt waren.
    Sie kamen an der Dreiviertelmeilen-Markierung vorbei, Moriarty war einen Meter in Führung, doch diesmal waren nur Barnum und sein Vater da, und Barnums Gebrüll »Drei Minuten sechsundvierzig Sekunden. Vernasch ihn, Junge, vernasch ihn!« wurde vom Schneegestöber und seiner wachsenden Erschöpfung verschluckt. Sein Atem toste durch die Kehle, seine Beine wurden lahm. Vor ihm war nur das Grölen der Menge, die Ziellinie ewig weit weg. Der Schnee und die Erschöpfung verschmolzen zu einem riesigen, eisigen Schmerz, und in dem Moment zog Latour an ihm vorbei, mit hämmernden, kraftvollen Schritten, die Moriarty den Schnee ins Gesicht spritzen ließen. An diesem Punkt, 300 Meter vor dem Ziel, empfand Moriarty zum ersten Mal eine Ausgebranntheit und einen Schmerz, der über das Körperliche weit hinausging. Er wusste, dass er alles gegeben hatte, nichts mehr herausholen konnte. Latour war nur noch ein Schatten, der sich von ihm entfernte, und Moriarty spürte, dass er nicht mehr lief, sondern nur noch ums Überleben kämpfte.
    Dann, eine Achtelmeile vor dem Ziel, als das Johlen der Menschen immer lauter durch den Schneepanzer drang, vernahm er eine glockenklare Stimme. Es war Edwin Booth, der zu Pferde neben der Markierung stand.
    »Der Augenblick, Moriarty! Der Augenblick!«
    Während der Proben hatten sie oft davon gesprochen, »im Augenblick aufzugehen«, gänzlich in eine Rolle hineinzuwachsen und mit ihr eins zu werden. Das war der Punkt, an dem alles einen Sinn ergab, alle Dichtung wahr und wahrhaftig wurde.
    Irgendwie drangen Booths Worte bis in sein Innerstes vor und berührten ihn jenseits aller Qualen. Sein Gegner war nicht mehr in Sicht, doch das spielte keine Rolle; das,was nun geschah, hatte mit Latour, dem Preisgeld oder sonst einem materiellen Wert nichts mehr zu tun.
    Moriarty sprintete los, der Atem kratzte in seiner Kehle wie Fingernägel auf Sandpapier. Trotz des rutschigen Schnees liefen seine kraftlosen Beine irgendwie weiter. 100 Meter vor dem Ziel kam Latour wieder in Sicht und lag nur zehn Meter vorn. Der Mann aus New Orleans lief mit durchhängendem Becken und schleifenden Fersen – ein klares Zeichen für Erschöpfung.
    Doch Moriarty nahm die Verfassung seines Gegners nicht mehr wahr. Er lief wie eine Maschine, wie Kolben durchstießen seine Arme den fallenden Schnee. 50 Meter vor dem Ziel konnte er den nachlassenden Latour fast berühren. Die Triebkraft von Booths Worten war jedoch fast verbraucht, und die zwei Meter, die ihn von Latour trennten, schienen unüberbrückbar.
    Dann geschah es. 30 Meter vor dem Ziel warf Latour einen einzigen, verzweifelten Blick über die Schulter. Das genügte – die Gewissheit, dass der Franzose genauso am Ende war wie er selbst, dass er schwach, dass er menschlich war, drang in Moriartys Einsamkeit vor. Er warf sich nach vorn; alle Technik war von einem Abgrund aus Schmerz verschluckt. Fünf Meter vor der Ziellinie hatte er Latour überholt, stürzte in das Zielband und fiel in den aufstiebenden Schnee.
    Eine volle Woche musste Moriarty im Krankenhaus bleiben, doch lange nach seinem Triumph war er noch immer der Held von New York, dem die Menschen

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