Finish - Roman
gegen Pathos und Effekthascherei treibt ihn ins andere Extrem«, bemerkte die London Review . Während die Droschke durch die Nacht zuckelte, wuchs Moriartys Bestürzung mit jeder Zeile. Bestenfalls beschränkten sich die Kritiker auf milde Verrisse, das meiste jedoch war geradezu verletzend. Beklommen drückte er Edwin die Zeitungen in die Hand.
Booth war verzweifelt. Die Kritiken hatten ihn tief getroffen. Zum Auftakt hatte er seine klassische Glanznummer gegeben – womit sollte er das Londoner Publikum jetzt noch erobern, ehe er nordwärts nach Manchester und Leeds weiterzog?
Wieso es nicht einmal mit Richelieu probieren, schlug Moriarty vor, eine Rolle, mit der sich Edwin sehr gut auskannte? Sie hatten noch zwei Wochen für das Vorsprechen und die Proben, und davor waren sie zu einem langen Wochenende auf das Anwesen des Earl of Grafton nach Cumberland geladen, um sich zu erholen. Booth war einverstanden. Drei Tage darauf begann das Vorsprechen, und die Rollen waren rasch besetzt.
Seit jeher galten die Graftons als großzügige Exzentriker. Junius Brutus Booth hatte den Earl während seiner Unglückstour 1825 kennengelernt und festgestellt, dass ihnen die Leidenschaft für Wein und Weib gemeinsam war. Junius Brutus war auch Graftons damals noch minderjährigem Sohn Maurice begegnet, der von der Schauspielkunst und den unerschöpflichen Geschichten des Amerikaners garnicht genug hatte bekommen können. Das Treffen mit Booth hatte in dem jungen Grafton ein leidenschaftliches Interesse für das Theater geweckt; sogar eine eigene Bühne mit 100 Plätzen hatte er sich auf seinem Anwesen gebaut, ausgestattet mit modernster Technik. Dort veranstaltete er Laientheater, bei dem sich der örtliche Adel mit Bauern und Schäfern mischte, oder er ließ erstklassige Schauspieler für großzügige Gagen in professionellen Inszenierungen auftreten.
Inzwischen war aus Maurice Lord Grafton geworden, ein zweiundfünfzigjähriger Veteran der Attacke der Leichten Brigade, der sich tagsüber mit den besten Foxhounds des Landes bei der Fuchsjagd amüsierte und abends vor ratlosen Bauern den Othello deklamierte.
Während die Kutsche unter einem Gewölbe silbrig schimmernder Zweige die sonnige, meilenlange Kieszufahrt zu Graftons Anwesen entlangfuhr, betete Moriarty, dass der Aufenthalt in Cumberland Edwin wieder aufrichten würde. Im Grunde seines Herzens wusste Booth, dass sein Shylock der beste gewesen war, den er je gespielt hatte, und er war überzeugt, dass seine Darstellung dem Shakespear’schen Juden etwas zutiefst Wahrhaftiges gegeben hatte. Doch durfte er seinem Instinkt trauen, wenn alle Kritiken dagegen sprachen? Moriarty wusste, dass Booth die ganze Fahrt über an nichts anderes denken konnte.
Kaum kam Grafton Hall in Sicht, war es, als kehrten sie heim. Der alte Earl hatte sein Anwesen nach dem Vorbild eines Südstaatenhauses gebaut, das allerdings gerade aussah, als stünde es unter Kanonenbeschuss der Yankees. Vier imposante weiße Marmorsäulen ragten über ihnen auf. Auf der obersten Stufe einer ausladenden Freitreppe hatten sich 58 Bedienstete in zwei Reihen aufgestellt, Schäfer, Butler, Köche, Gärtner. In der Tür stand der Earl höchstpersönlich, ein schlanker, 1,95 großer Mann mit rotem Gesicht und wilder grauer Mähne. Er trug Kniebundhosen, weißeStrümpfe und eine Regency-Weste. Neben ihm standen seine Frau, drei Söhne und eine Tochter.
Geblendet vom strahlenden Sonnenschein, stiegen die Schauspieler aus der Kutsche, und Edwin und Moriarty reichten der schwangeren Mary die Hand.
»Edwin!«, dröhnte Grafton und eilte die Stufen hinunter. Booth war verblüfft, denn sie hatten sich noch nie gesehen. Überschwänglich wurde er von dem riesigen Earl begrüßt und zusammen mit seiner Frau und Moriarty die Treppe hinauf ins Haus geleitet. Moriarty sah sich neugierig um: Dies schien genau das zu sein, was Edwin brauchte.
Graftons kleines Theater war ein echtes Juwel, ausgestattet mit einem gut ausgeleuchteten Proszenium und den modernsten mechanischen Vorrichtungen für einen raschen und effektvollen Kulissenwechsel. Die luxuriösen Samtsitze waren äußerst bequem und übertrafen alles, was die Theater Londons und New Yorks zu bieten hatten, und die Sicht und Akustik des Zuschauerraumes waren makellos.
Doch als Grafton ein paar Auszüge aus Othello zum Besten gab, bekam Moriarty erst recht Gänsehaut. Grafton war zweifellos ein physisch sehr eindrucksvoller Mohr, was sein schauspielerisches
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