Finish - Roman
Cummings Bern angesprochen. Zwei Monate Training irgendwo in den Adirondacks, 20 Mäuse bar die Woche garantiert; dann, im September, ab nach St. Louis zum Sprint-Wettkampf. Das bedeutete jeweils zehn bis 20 Läufer, 200 Dollar Einsatz pro Kopf, und der Sieger kriegt alles. Sollte Müller gewinnen, ginge die gesamte Kohle an ihn, und Cummings würde ihn mit zehn Prozent an sämtlichen Wetten beteiligen, was noch einmal 2000 Dollar bedeutete.
Cummings’ Argumente waren bestechend. Bern könne nur gewinnen: Selbst wenn er das Rennen verlöre, könnte er sich noch immer über ein paar 100 Kröten in der Tasche und eine Reise nach St. Louis freuen. Seine Chancen lägen gut, zwei Zehntelsekunden über der Sollzeit reichten zum Sieg, und ein paar Monate mit seinem Trainer Sergeant Routledge würden ihn so weit bringen. Also, was sagte er?
Bern musste nicht lange überlegen. Eine Woche später wurde er mit einem mürrischen kleinen Exyankee-Soldaten in eine primitive Holzhütte in den Adirondack Mountains ein paar Meilen südlich von Lake Placid einquartiert. Der einäugige Routledge war ein amerikanischer Schüler des großen Captain Barclay. Zunächst hatte Bern angenommen, der Captain sei vielleicht Routledges Vorgesetzter in der Nordstaatenarmee gewesen, doch schon bald klärte Routledge ihn auf, dass der berühmte Kapitän Engländer gewesen war und der Urvater moderner Trainingsmethoden.
In der ersten Woche wurden Berns Eingeweide mit Hilfe eines von Routledge eigens zusammengerührten, widerlichen schwarzen Gebräus von jeglichen Abfällen geleert, und Berns Sprinttraining spielte sich hauptsächlich zwischen der Blockhütte und dem 20 Meter entfernten Klohäuschen ab. Die Reinigung der Eingeweide ging mit täglichen Schwitzkuren einher, kombiniert mit langen Trainingsläufen durch die Sommerhitze in Long Johns, Strickpullover und Wollmütze, denen eine Stunde Bettruhe unter dicken Decken folgte.
Man möchte meinen, bei all der Schwitzerei hätte sich der arme Bern ein Quäntchen Flüssigkeit verdient. Doch weit gefehlt, denn Sergeant Routledge hatte das ohnehin unerbittliche Programm des Captains dahingehend verschärft, dass er seinem Schützling nur das äußerste Minimum an Flüssigkeit zugestand. Der völlig dehydrierte Bern Müller brachte die meiste Zeit des Tages damit zu, wie ein wahnsinniger nach Wasser zu lechzen. Einmal hatte RoutledgeBern dabei erwischt, wie er nach einem kurzen Regenschauer verzweifelt die Blätter der Büsche ableckte und ihn mit einem weiteren sengenden Berglauf dafür bestraft.
Routledge war kein Trainer, sondern ein Menschenformer. Sein oberster Vorsatz bestand darin, Bern Müller in siebzig Kilo Muskelmasse zu verwandeln, und das würde er tun, und wenn Bern Müller dabei draufgehen müsste. Als Bern nach einem Monat das angestrebte Gewicht erreicht hatte, war Routledges wichtigstes Soll erfüllt. Die folgenden vier Wochen triezte er Müller mit Starts und Zeitläufen zu einer regelrechten Sprintmaschine. Eine Woche vor Abfahrt nach St. Louis war Bern auf einem ebenen Wiesenstück unterhalb der Hütte und unter dem kritischen Blick seines Sponsors William Cummings 10,3 Sekunden auf 100 Meter gelaufen.
Schließlich hatte Cummings ihn gebeten, sich einen Nom de Guerre zuzulegen, wie es bei Profiläufern üblich war. Bern hatte mehrere Groschenromane mit dem Revolverhelden »Buck Brady – dem Schrecken der Prärie« gelesen und entschied sich spontan für den Vornamen Buck. Obwohl er kaum ein Wort Deutsch sprach, war er stolz auf seine deutschen Wurzeln und beschloss, als Nachnamen das englische Pendant zu Müller zu wählen. Und so wurde am 1. August 1874 aus Bern Müller Buck Miller.
Bucks Reise nach St. Louis vollzog sich unter größter Geheimhaltung. Ehe er den Adirondack Mountains den Rücken kehrte, hatte er sich auf Routledges Geheiß einen Schnurrbart wachsen lassen, und in einem Aufzug, der eher einem Fünfzigjährigen zugestanden hätte, wurde er nach Chicago eskortiert und einen Tag lang im obersten Stockwerk des Grand Union Hotels weggeschlossen. Am 7. September, zwei Tage vor dem Rennen, ging es in Begleitung von Sergeant Routledge weiter zu einer Farm vor den Toren St. Louis’, wo ihn ein älteres irisches Ehepaar namens McCarty beherbergte.
Der Jahrmarkt von St. Louis frönte der heiligen Hatznach dem schnellen Geld. Austragungsort war die neu errichtete Rennbahn, und die Wettkämpfe waren das reinste Glücksspiel-Eldorado, in dem sich alles um Pferderennen,
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