Finish - Roman
sich miteinem neuen Weltrekord über eine Stunde zufriedengeben, der ihn jedoch um Längen überleben sollte.
Praktisch gesehen, war die Tour damit vorüber. Booth gab noch zwei Theaterlesungen in London und zwei weitere an den Universitäten von Oxford und Cambridge, und dann manchte die Truppe auf Edwins Drängen hin noch eine Woche Urlaub und verbrachte mehrere Tage im »Geburtsort des Meisters« in Stratford-upon-Avon.
Als Moriarty und seine frisch angetraute Ehefrau in Southampton an Bord der S.S. Galatea gingen, musste er daran denken, dass sowohl Booth als auch Deerfoot allen Widrigkeiten zum Trotz am Ende doch der Durchbruch in England gelungen war. Doch er selbst, der ohne große Erwartungen hergekommen war, kehrte mit dem Hauptgewinn zurück.
Während ihrer Flitterwochen auf der Rückreise nach New York entschied sich Eleanor für den Künstlernamen »Eleanor Cameron«.
Außerdem begann sie mit der Abreise aus Liverpool ein Tagebuch zu führen. Sie spürte, dass sie einem neuen Leben entgegenfuhr, und dies war die beste Zeit, um alles Neue festzuhalten. Zuerst schrieb sie heimlich in ihrer Kabine, doch als Moriarty dahinterkam und sie mit ihrem »geheimen Logbuch« aufzog, beschloss sie, es offen zu führen, wohl wissend, dass ihr Mann ihre Privatsphäre respektieren würde.
Es wurde eine Arbeitsreise, auf der Moriarty und die Booths nicht müde wurden, ihr die Grundlagen der Schauspielkunst einzubläuen. Eleanor war eine eifrige Schülerin und sog die Flut von Anweisungen gierig in sich auf. Und auch nach dem Schauspielunterricht ließ ihr Eifer nicht nach. Die ersten Nächte mit Moriarty, in denen sie die schier ungeheuerliche Flut von Sinnesreizen sprachlos gemacht hatte, lagen nun hinter ihr, und das Paar befand sich in jener aufregenden Phase einer Liebesbeziehung, inder man den Körper des anderen Quadratzentimeter für Quadratzentimeter erkundet und die freudige Überraschung über jede Neuentdeckung miteinander teilt.
Sie wusste, dass es lange dauern würde, ehe sie Moriarty richtig kennen würde, denn als Sportler und Schauspieler hatte er ein unabhängiges, einzig von seinen Vorstellungen und Wünschen bestimmtes Leben geführt. Doch besaß er etwas enorm Großzügiges, gar Edelmütiges. Und so erkor sie es sich zur Lebensaufgabe, aus Moriarty ein vollkommeneres menschliches Wesen zu machen.
6
DER MANN AUS ST. LOUIS
In den ersten Jahren am New Yorker Theater und während ihrer gelegentlichen Ausflüge nach Iowa und Kansas erlernte Eleanor Cameron neben dem Schauspielerhandwerk auch das der einfallsreichen und liebevollen Ehefrau. Und als Präsident Lincoln 1865 von Edwin Booths Bruder John Wilkes ermordet wurde, war es ihrer Charakterstärke zu verdanken, dass Edwin die dunkle Zeit, in der nicht einmal seine Frau Mary an ihn herankam, glimpflich überstand.
Mit dem Kauf von Booth’s Theatre an der 6th Avenue Ecke 23ste im Jahr 1869 folgte Booths verheerender Ausflug ins Theatermanagement. Binnen eines Jahres hatte sich das Unternehmen in einen riesigen Schuldenberg verwandelt. Wieder war Eleanor die treibende Kraft, die Moriarty 1871 dabei unterstützte, Booth zu schauspielerischer Höchstform zurückzubringen. Doch Moriartys Stippvisiten in den Mittleren Westen hatten bei ihnen die Reiselust geweckt. Nach dem Krieg schien sich die ganze Nation auf den Weg gen Westen in die ausgedörrten Weiten der Great Plains gemacht zu haben, und gewiss wartete dort ein neues, theaterhungriges Publikum auf sie. Ende des Jahres 1871 verkauften Moriarty und Eleanor alles, was sie besaßen, und machten sich auf den Weg. Die Idee zu Moriartys erstem »Theater des Westens« war geboren.
Im Sommer 1874 lernten sie auf dem Jahrmarkt von St. Louis Bern Müller kennen.
Bern war der einzige Sohn von Karl Müller, einem ehemaligen Mitglied des politisch radikalen Hanauer Turnvereins.Im Revolutionsjahr 1848, als Preußen gemeinsam mit anderen reaktionären deutschen Staaten in Baden einfiel, hatten dessen kläglich bewaffneten 600 Mitglieder der besten Armee Europas mutig die Stirn geboten. Doch nach vier Wochen erbitterter Kämpfe war das Hanauer Freicorps schließlich niedergeschlagen worden. Rund 240 seiner Mitglieder, darunter Karl Müller, konnten sich zur Schweizer Grenze durchschlagen, die übrigen waren während der Kämpfe umgekommen oder nach ihrer Gefangennahme erschossen worden. Müller war zu Fuß durch die Schweiz nach Frankreich gewandert und hatte sich einige Monate als Akrobat in einem Pariser
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