Finkenmoor
Tränen in die Augen, denn er übertraf all ihre Erwartungen.
Euphorisch begann sie damit, die Extremitäten zu beschweren, und füllte dazu feinstes keimfreies Granulat in dünne Plastikbeutel, die sie auf ihrer Küchenwaage abwog. Nach und nach gab sie die kleinen Säckchen in Arme, Beine und den Kopf. Auch den Flanelltorsosack polsterte sie so auf und achtete darauf, dass der Kleine am Ende exakt 2.850 Gramm wog. Bevor sie die Körperteile endgültig zusammensetzte, klebte Norma im Inneren des Kopfes, auf der Höhe der Lippen, einen Magneten fest. So konnte später von außen ein Schnuller angesetzt werden.
Ein schlummernder Säugling. Wie süß. Schließlich, und dies war ein wirklich erhebender Augenblick, passte sie an den Gliedmaßen Scheibengelenke ein. Sie ermöglichten reale Babypositionen in allen möglichen Lagen. Spätestens jetzt wandelten sich Normas Gefühle.
In diesem Moment wurde der Rohling zu ihrem Baby. Jason.
Mit rosigen Wangen trug Norma den Kleinen ins Schlafzimmer, legte ihn auf die Wickelkommode und schaltete die Wärmelampe ein. Hingebungsvoll zog sie Jason ein weißes Leibchen über und kitzelte die kleinen Speckzehen, während sie ihm seine erste Pampers anlegte. Sie ließ sich Zeit, genoss jeden Augenblick, nahm Jason immer wieder hoch und drückte ihn an sich. »Ich werde auf dich aufpassen«, hauchte sie. »Du bist mein kleiner Engel.«
Noch am gleichen Abend zeichnete Norma ganz sanft mit Bleistift eine Markierung auf Jasons Kopf, klebte das dunkelblonde Mohairtoupet auf und brachte die beiden Wimpernstränge an. Die Freude, die Norma überkam, ließ sich nicht in Worte fassen.
Schließlich brachte sie ihren Liebling ins Bett und summte Melodien in sein weiches niedliches Ohr. Gegen Mitternacht verschwand sie noch einmal in der Küche und kam mit Wein, einem Potpourri bestehend aus Gorgonzola, Pecorino sowie Tiroler Graukäse zu Jason zurück.
»Happy birthday, mein Herz«, flüsterte Norma und aß genüsslich. Sie konnte den Blick nicht von dem Kleinen lösen, der friedlich in ihrem Arm lag. Norma fand ihn wunderschön, wie er so dalag, nuckelnd, in seinem blauen Strampler mit Sternchen.
Cuxhaven-Duhnen
Feuchter Nebel hing über dem Watt. Die Sicht betrug weniger als drei Meter. Ronny ging mit strammem Schritt am Strand entlang Richtung Kugelbake und versuchte, Jan-Luca aus seinem Kopf zu verbannen. Die Idee, ein Kind hier direkt am Strand, gegenüber der Promenade anzusprechen, erschien ihm im Nachhinein nicht besonders klug und unglaublich riskant. Die Sache hätte wirklich schiefgehen können. Er konnte doch nicht einfach einem Impuls folgen, nicht bei einer solch wichtigen Angelegenheit.
Natürlich lebte sein Plan bis zu einem gewissen Grad von Zufällen. Wenn sich eine Gelegenheit bot, musste er sie beim Schopf fassen, nicht zögern und besonnen reagieren. Ronny instruierte sich.
Der Regen wurde stärker. Er fror.
Wie aus dem Nichts spuckte der Nebel ein Mädchen aus dem Watt. Augenblicklich begann sein Puls zu rasen. Wieder eine Möglichkeit zuzuschlagen. Das konnte kein Zufall sein.
Sieben, älter war die Kleine nicht. Ihre kurzen Beine steckten in gelben Gummistiefeln. Sie hielt einen Eimer in der Hand. Pferdeschwanz. Übergewicht.
Ronnys Gedanken überschlugen sich. Vertrauen fassen? Wozu? Tuch auf die Nase. Schnell. Zielstrebig. Keine Fragen. Keine Antworten. Packen und ab ins Auto. Das Kind würde nach kurzer Gegenwehr wie schlafend in seinen Armen liegen, nicht heulen, nicht treten. Los. Jetzt oder nie.
Entschlossen machte Ronny einen Satz auf sie zu. Noch einen Schritt, und er konnte ihre Jacke berühren, das Chloroformtuch in der Hand. In ihrem Blick las er Schrecken.
Schnapp sie dir!
Stimmen machten alles zunichte. Die Silhouette eines Paares löste sich aus dem Nebelschleier. Hand in Hand kamen sie aus dem Watt. Sofort drehte Ronny um, stopfte das Tuch in seine Jackentasche und schritt davon, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Schluss. Für heute hatte er genug.
Verdammte Kinder. Bescheuerte Eltern. So lief die Sache nicht. Er ging zurück zu seinem Wagen und machte sich schlecht gelaunt auf den Heimweg, trommelte während der Fahrt mit den Daumen auf das Lenkrad. Schneeregen setzte ein.
Die SMS seiner Mutter erreichte ihn, als er fast zu Hause war. »Junge, denk an das Fischfutter.«
Er wendete mit quietschenden Reifen. Auf der Fahrt ins Zentrum beruhigte er sich und pfiff schließlich »Somewhere over the rainbow«, ohne es zu
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