Finkenmoor
Heidfeld lächelte von einem Plakat an der Wand. Doch auf einmal wirkte das Lachen des Rennfahrers auf Ivo überheblich. Er schnellte hoch, riss das Poster von der Wand und ließ seine Tränen laufen.
Seine Gedanken rasten wieder zu Anne-Lene. Die Gründe für das Ende ihrer Beziehung waren Ivo absolut schleierhaft.
»Ich mache Schluss.« Mehr hatte sie nicht gesagt. Drei Worte, die das Ende besiegelten, ohne eine weitere Erklärung. Sie hatte ihn einfach stehen lassen, war vom Pausenhof gerannt, ohne sich noch einmal umzudrehen. Ivo hatte ihr irritiert und ungläubig hinterhergestarrt, hatte nicht, mit keiner noch so kleinen Geste reagieren können und die restlichen Schulstunden wie in Trance erlebt. Englisch. Mathe. Unendliche Stunden. Nach dem Unterricht hatte er nicht auf sie warten können, weil er zuerst zur Physio und dann zum Hockey musste.
Die Welt erschien ihm ungerecht. Gott sei Dank war seine Mutter noch bei der Arbeit. So blieben ihm wenigstens ihre treffsicheren Fragen erspart, auf die er sowieso keine Antworten hatte.
Wie konnte Anne-Lene ihn einfach so abschreiben? Ivo wischte die Tränen fort. Ihm fiel ein, dass sich seine Clique heute am Kite-Strand in der Nähe vom Finkenmoor traf. Mit etwas Glück würde Anne-Lene auch kommen. Seit dem Sommer war dies der Treffpunkt seiner Freunde. Hier rauchten sie, quatschten und knutschten.
Das war die Gelegenheit, Anne-Lene zur Rede zu stellen. Er musste zu ihr. Jetzt und sofort. Ivo sah auf die Uhr. Fast fünf. Um sieben Uhr erwartete ihn seine Oma. Das konnte er schaffen, wenn er vom Kite-Strand am Meer entlang später geradewegs nach Duhnen fuhr.
Ivo zog den Rollstuhl heran, streifte ein wärmeres Kapuzenshirt über sein Hemd. Mit schnellen Bewegungen war er an der Haustür und stieg auf sein neues Bike um.
Entschlossen betätigte er die Handgriffe, die das Zahnrad in Bewegung setzten.
Cuxhaven-Wernerwald
Es war fast dunkel und zudem bitterkalt. Schon nach wenigen Metern spürte Ivo seine Hände kaum noch. Er rollte den Schotterweg hinab, links Wald, rechts Felder, Wiesen und Pferdekoppeln. Feiner Sand knirschte unter den Reifen. Obwohl der Weg leicht abschüssig war, musste Ivo die Pedale kräftig drehen. Kein Mensch kam ihm entgegen. Der Wind frischte auf.
Am Lohmannsmoor bog er links ab, fuhr ein Stück geradeaus, was ihn sehr anstrengte, denn nun ging es leicht, aber stetig bergauf. Unebenheiten im Boden machten ihm ebenso zu schaffen, Erhöhungen und Senken wechselten sich ab. Auf unebenem Waldboden fuhr Ivo ungern.
Trotzdem versuchte er nicht nachzulassen, ihm lief die Zeit davon, und mit ihr Anne-Lene.
Mit hochrotem Kopf mobilisierte er all seine Kräfte. Doch der Tag hatte ihm bereits einiges abverlangt. Resigniert stellte Ivo fest, dass er nur sehr langsam vorwärtskam, und spielte gerade mit dem Gedanken, die ganze Sache abzublasen, als ihm ein Pfad auffiel. Komisch, dass er ihn nie zuvor gesehen hatte. Zwei mickrige Tannen markierten den Eingang, standen wie kleine Wächter. Der Weg sah relativ eben aus, wirkte abschüssig und führte in die richtige Richtung. Ivo überlegte nicht lange und steuerte darauf zu.
Gleichzeitig begann es zu nieseln.
Ivo stellte erleichtert fest, dass er nun ziemlich gut vorankam. Geschickt lenkte er das einen Meter sechzig lange Bike an Bäumen und Sträuchern vorbei, legte sich in Gedanken Worte zurecht, dachte darüber nach, was er Anne-Lene fragen konnte, um herauszufinden, womit er sie dermaßen verärgert hatte.
Den Ast, der quer über dem Pfad hing, sah Ivo zu spät.
In voller Fahrt schlug er mit der Stirn dagegen, wurde vom Sitz geschleudert und stürzte zu Boden. Benommen wälzte er sich auf dem feuchten Waldboden. Platzregen setzte ein.
Obwohl sein Kopf extrem schmerzte, setzte sich Ivo sofort auf. Sein Handbike stand in einiger Entfernung vor einem dicken Baum. Ivo kroch darauf zu, während der Regen ihm ins Gesicht peitschte. Feuchtigkeit saugte sich in die Fasern seiner Jeans. Mit Mühe erreichte er sein Bike, schaffte es auf den Sitz und drehte die Handpedale. Sie ließen sich bewegen, aber das Bike fuhr keinen Meter. Ungläubig starrte Ivo zur Kette. Sie hing neben dem Ritzel. Zusätzlich war das Vorderrad demoliert, die Speichen verbogen.
»Shit!«
Ivo griff in die Hosentasche. Kein Handy. Es lag auf dem Küchentisch. Einen Augenblick saß er wie vom Donner gerührt, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Mit Blick auf seine Armbanduhr wurde ihm klar, dass er es nicht mehr bis
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