Finkenmoor
nicht eskaliert. Wirklich, so eine Scheiße. Ja, genau genommen gingen all die Ereignisse hier auf Bertold Dallingers Konto – und auf das seiner Mutter! Schließlich war sie es, die nie das Maul aufmachte, und wenn, dann nur um eine ihrer Weisheiten aufzusagen. »Wünsch deinem Sohne Glück und wirf ihn ins Meer!« So ein hohles Gelaber. Nie stellte sie sich vor ihn, nie bezog sie Partei gegen ihren Mann. Immer versteckte sie sich hinter beknackten Lebensweisheiten.
Ronny fluchte lautstark.
Wenn sein Vater nicht auf seiner Begleitung bestanden hätte, wäre er niemals nach Hamburg gefahren, hätte sich um Maxi gekümmert und sie wahrscheinlich längst laufen lassen. Dann hätte dieser Junge die Kleine nicht gefunden, und alles wäre easy.
Hätte, wäre, könnte.
Aber nein, der alte Blödmann musste mal wieder den Diktator spielen und bestimmen, wo es langging. Am liebsten wäre Ronny nach Hause gefahren, um Herrn Wulstlippe und Frau Kalenderspruch aus dem Bett zu zerren, sie herzuschleifen und mit der Scheiße zu konfrontieren, die sie angerichtet hatten.
Mit Blick auf seine Armbanduhr zwang sich Ronny auf die Beine. Der Sonnenaufgang war nicht fern. Er musste sämtliche Spuren beseitigen. Falls die Kleine sich irgendwie durchgeschlagen hatte, käme die Polizei ihm auf die Spur, damit war jedenfalls zu rechnen. Aber die Bullen konnten ihm nur etwas anhaben, wenn sie Beweise fanden, ergo musste alles verschwinden. Die Käfige und Seemannskoffer, der Bengel, einfach alles, was die Anwesenheit der Kinder verraten konnte. Weg damit, am besten ins Finkenmoor.
Ronny verlor keine Zeit und eilte in den Keller. Er machte sich nicht einmal die Mühe, in den Koffer zu gucken. Das Schicksal des Jungen interessierte ihn nicht. Was steckte er auch seine Nase in fremde Angelegenheiten. In einem irrsinnigen Tempo schleppte er den Überseekoffer und alles, was ihn verraten konnte, zu seinem Auto. Am Schluss packte er das demolierte Handbike hochkant auf den Rücksitz und fuhr Richtung Finkenmoor.
Über dem Gewässer hing bleierner Nebel.
Das nahe gelegene Meer rauschte.
Ronny stieg aus und warf das Bike, die Käfige und Kisten ins Moor. Sie versanken langsam und geräuschvoll. Vögel erhoben sich aufgeregt. Den Seemannskoffer, in dem der Junge lag, hievte Ronny zum Schluss aus dem Fahrzeug. Ohne auf seine teuren Schuhe zu achten, zog Ronny ihn ins Wasser. Nach wenigen Schritten wurde der Grund abschüssig. Auf dem schlammigen Boden fand er kaum Halt. Mit enormer Kraftanstrengung zog er den schweren Koffer tiefer und tiefer ins Moor. Schwitzend, fluchend, keuchend. Schon stand Ronny bis zu den Oberschenkeln in der dunklen Brühe.
»Was machen Sie denn da?« Die Stimmen klangen energisch.
Zwei Männer im Joggingoutfit schälten sich aus der Nebelwand, standen gestikulierend direkt am Ufer. Scheiß Frühaufsteher . Ronny bedachte sie mit einem wütenden Blick und widmete sich ansonsten unbeeindruckt seinem Unterfangen.
»Hey! Sie können doch nicht einfach Ihren Müll hier versenken!«, rief einer der beiden. »Das ist Naturschutzgebiet.«
Der Vorwurf prallte an Ronny ab. Er zog den Seemannskoffer stoisch vorwärts, bis Wasser den Deckel überspülte, ließ ihn dann los, machte auf dem Absatz kehrt und stolperte zum Ufer an der anderen Seite, weit weg von den Joggern. Aus den Augenwinkeln registrierte Ronny, dass die Typen offenbar das Weite gesucht hatten während der Koffer blubbernd im Moor verschwand.
Cuxhaven, Heinrich-Grube-Weg
Der jüngere Jogger, ein engagierter Umweltschützer, hatte sich Ronnys Kennzeichen gemerkt und die Polizei informiert. Nicht einmal zwei Stunden später fuhren zwei Beamte zur Klärung dieser Ordnungswidrigkeit zum Haus der Dallingers.
Ronny öffnete die Tür. Im ersten Moment war er erstaunt, fragte sich, wie man ihm so schnell auf die Spur gekommen war.
»Ich wollte den Kleinen nicht töten«, platzte er deshalb hervor und hielt den Beamten sofort seine ausgestreckten Arme entgegen. Erst an deren verwunderter Reaktion erkannte er, dass er vorschnell gehandelt hatte. Umgehend knallte Ronny den Polizisten die Haustür vor der Nase zu und rannte an seinen überraschten Eltern vorbei durchs Haus auf die Terrasse.
»Junge?«
Ronny durchquerte den Garten und erreichte sein Auto.
Die Flucht gelang ihm nicht. Handschellen klickten, und der Polizei von Cuxhaven gelang durch Zufall die Festnahme des Mannes, nach dem seit mehreren Tagen bundesweit gefahndet wurde.
Cuxhaven 2012, Agentur für
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