Finkenmoor
ununterbrochen.
Er wollte nach Hause.
Zudem verspürte er tierischen Hunger. Doch beim Gedanken an Spaghetti wurde ihm schlecht. Wie spät es wohl war? Er schaute auf die Uhr. Kurz nach elf. Ob die Polizei bereits nach ihm suchte? Mit Sicherheit. Die Vorstellung war tröstlich. Vielleicht fanden sie sein Handbike, wenn Ronny es nicht ins Haus geholt hatte.
Ivo rollte sich am Boden des Käfigs zusammen, wimmerte, seine Augen wurden schwer. Er döste.
Die Melodie spielte unvermittelt, riss ihn aus einem oberflächlichen Halbschlaf. Lalelu. Klar. Unrhythmisch.
Ivo war wieder hellwach. Hier unten war die Musik wesentlich lauter, und sie kam, da war er ganz sicher, hinten aus der Ecke, wo die sperrigen Seemannskoffer standen. Er leuchtete hinüber.
Lalelu. Jetzt schnell. Immer schneller.
»Hallo?«, flüsterte er. »Ist da jemand?«
Totenstille.
Ivo richtete sich auf, rüttelte an den Gitterstäben. Es blieb ruhig. Im blassen Licht seiner Uhr verharrte er, saß ganz ruhig. Dann ließ er sich zurückfallen und dachte nach. Die Art, wie die Melodie gespielt wurde, erinnerte ihn an diese kleinen Walzen, die, wenn man an einer Kurbel drehte, Musik spielten. Jemand musste hier unten mit ihm im Keller sein. Jemand, der die Walze drehte. Die Melodie konnte nicht von allein spielen. Niemals. Der Gedanke, nicht allein zu sein, war irgendwie ermutigend.
Ivo schöpfte Mut, während er lauschte. Da weinte jemand. Ganz leise. Er lehnte sich vor, verlor das Gleichgewicht und fiel gegen die Tür. Dabei sprang der Bügel des Vorhängeschlosses auf. Offenbar hatte Ronny das Problem nicht lösen können und seinen Gefangenen in dem Wissen zurückgelassen, dass er sowieso nicht entkommen konnte. Oder hatte er seinen Fehler gar nicht bemerkt?
Ivo griff durch das Gitter, nahm das Schloss an sich und öffnete die Tür weit. Sein Herz klopfte, als er aus dem Käfig robbte und sich über den lehmigen Kellerboden auf die Seemannskoffer zubewegte. Es kostete ihn viel Kraft, immer wieder verschnaufte er keuchend, sammelte sich, um dann weiter vorwärtszukommen.
Endlich berührten Ivos Fingerspitzen den unteren Seemannskoffer. Er versuchte den oberen zu erreichen, rutschte jedoch ab und stieß mit dem Kopf gegen die Kante eines Regals. Schmerz durchfuhr seinen Körper. Hilfesuchend sah sich Ivo um. In Reichweite entdeckte er eine leere Bananenkiste, stellte sie hochkant, zog sich hoch und ließ sich auf die dünnen Bretter fallen.
Mühelos konnte Ivo nun die beiden Riegel der oberen Überseetruhe öffnen.
Auf dem Boden kauerte ein Mädchen. Ivo leuchtete mit seinem Ziffernblatt. In der linken Faust hielt sie die Walze – er konnte die goldene Kurbel erkennen. Die Kleine stank grauenhaft. Soweit er erkennen konnte, waren ihre Jacke und die Jeans schmutzig. Unwillkürlich wich Ivo zurück und atmete automatisch durch den Mund. Das Kind wirkte leblos, ließ ihn aber nicht aus den Augen.
»Hey«, flüsterte Ivo. »Alles okay?«
Eine dämliche Frage, gar nichts war hier in Ordnung! Er hockte sich auf den Kistenrand und streckte die Hand aus. Das Mädchen rührte sich nicht. Vorsichtig strich er ihr übers Haar. Es fühlte sich feucht und verfilzt an. »Wie heißt du?«
Sie bewegte die rissigen Lippen, doch kein Laut drang zu ihm vor.
Ivo lehnte sich weiter vor, immer noch angeekelt von den Gerüchen, dennoch berührte er zaghaft ihre kalte Hand. »Du musst hier raus, die Polizei rufen. Ich kann nicht laufen! Bitte!«
Er zog die Kleine am Arm, aber sie blieb liegen, machte keine Anstalten, aus dem Koffer zu klettern.
Ivo verstand sie nicht.
In seiner Verzweiflung riss er immer heftiger an ihren Armen, er wollte sie dazu bewegen, aufzustehen, loszulaufen, Hilfe zu holen. Ihr Verhalten erinnerte ihn an Moses, den Hund seiner Oma. Beim letzten Tierarztbesuch hatte er eine Spritze verpasst bekommen und danach nicht einmal mehr seine Pfoten bewegen können. Genauso fühlte es sich jetzt mit dem Mädchen an. Ihre Arme fielen schwer auf ihren Körper zurück, wenn er sie anhob und losließ. Ähnlich wie seine Beine, da war kein Leben drin. Vielleicht hatte dieser geisteskranke Ronny ihr eine Spritze verpasst, damit sie nicht schrie.
Ivo dachte nach. Er konnte versuchen, sich die Treppe hochzuziehen. Mit etwas Glück war die Kellertür unverschlossen. Wenn er es bis dahin schaffte, konnte er das Haus verlassen und irgendwie Hilfe holen.
Je länger er darüber nachdachte, desto klarer wurde ihm, dass es nur diese Möglichkeit gab.
»Ich
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