Finkenmoor
verstanden. Sie war eine Mutter, und daraus ergaben sich Ansprüche, die sie geltend machen konnte.
Cuxhaven-Duhnen, Christian-Brütt-Weg
Iska bewegte sich wie in Trance durch ihren Alltag. Aufstehen. Kaffee kochen, mit Moses eine Runde drehen. Auch Monate nach Ivos Einäscherung erledigte sie die alltäglichen Dinge des Lebens nur mechanisch.
Das letzte Bild ihres Enkels begleitete sie auf Schritt und Tritt. Sie sah ihn vor sich, aufgebahrt in der Rechtsmedizin, in seinem dunkelblauen Konfirmationsanzug, weißes Hemd mit perlmuttfarbener Fliege. Die schulterlangen Haare ordentlich gekämmt, die Hände gefaltet.
Friedlich hatte er ausgesehen, schlafend und unschuldig. Der eigens angeforderte Spezialist des Beerdigungsinstituts hatte Ivo wunderschön hergerichtet, um den Angehörigen ein persönliches, nahes Abschiednehmen zu ermöglichen. Ivos Mutter hatte diesen letzten Kampf gekämpft, sich durchgesetzt gegen alle, die einen letzten Gruß am offenen Sarg für keine gute Idee hielten. So hatte sich auch Iska vor ihrem Enkel verneigt und schaffte es seitdem kaum, sich aufzurichten.
Ihre Tochter, Ivos Mutter, war in einer Lethargie gefangen, verweigerte das Leben, ging weder zur Arbeit, noch schien sie sich für irgendetwas zu interessieren. Bis auf Weiteres krankgeschrieben, kam sie morgens meist nicht aus dem Bett und stopfte den halben Tag Schokolade in sich hinein. Mittlerweile brachte sie fast einhundert Kilo auf die Waage.
Aus Sorge hatte Iska sie in ihrem alten Kinderzimmer einquartiert. Gott sei Dank protestierte sie nicht. Iska fühlte sich erleichtert und gebraucht. Ihre Tochter war der Grund, warum sie morgens aus dem Bett kam. Sie und Moses hielten sie davon ab, verrückt zu werden.
An diesem Mittag kam endlich die Lieferung mit der Post, auf die Iska sehnsüchtig gewartet hatte. Der Ring steckte in einem schmucklosen Kästchen.
Iska ließ sich aufs Sofa fallen, drehte den Ring im Licht und streifte ihn schließlich über den Mittelfinger ihrer linken Hand. Ein Diamant, aus Teilen von Ivos Asche gepresst. In einem aufwendigen Verfahren war aus den Überresten Kohlenstoff entzogen worden. Fast sieben Wochen war das verbliebene reine Material in einer Presse hohem Druck und einer enormen Temperatur ausgesetzt gewesen. Nach und nach waren Kristalle entstanden, aus denen schließlich ein Rohdiamant wurde. Iska hatte diesen Stein in Herzform schleifen und anschließend einfassen lassen. Und nun, endlich, trug sie einen Teil ihres Enkelsohns für immer bei sich. Zufrieden verharrte sie einige Augenblicke, bis sie mit der Hausarbeit fortfuhr. Auch ermahnte sie sich, ihrer Tochter nichts von der Herkunft des Rings zu sagen.
Sie würde kein Verständnis haben.
Nach einem kurzen Imbiss ging Iska in den Keller, stellte eine Maschine Buntwäsche an und bügelte. Später, nach dem Mittagsschlaf, ließ sie Moses für einen Moment in den Garten und deckte den Tisch für zwei Personen. Gegen vier versuchte sie stets, ihre Tochter aus dem Bett zu locken, indem sie Kaffee und Kuchen bereitstellte. Als sie gerade mit der feuchten Wäsche auf dem Weg zum Dachboden war, klingelte es an der Haustür.
»Phyllis!« Iska ließ ihre Schwester ins Haus. »Was für eine wunderbare Überraschung! Ich mache gerade die Wäsche. Begleitest du mich auf den Speicher?«
»Deine Tochter hat mich angerufen«, sagte Phyllis. »Offenbar sieht sie den Einzug bei dir nur als kurzes Gastspiel. Ich will mich zwar nicht einmischen, aber vielleicht sollte sie wirklich versuchen, langsam wieder auf eigenen Füßen zu stehen.«
Iska fuhr herum. »Woher willst ausgerechnet du wissen, was gut für mein Kind ist?«
»Iska, ich meine es doch nicht böse, du hast nur manchmal eine Art … du … Ich weiß, dass du dich einsam gefühlt hast nach Friedrichs Tod, und …«
»Davon verstehst du nichts! Du bist nie verheiratet gewesen, hast alle Männer verscheucht, weil du –«
»Bitte. Ich möchte nicht streiten.«
Iska ließ ihre Schwester stehen und stapfte die Stufen zum Dachboden hinauf. Sie drückte den Lichtschalter. Nichts. Sie hatte vergessen, die defekte Glühbirne auszuwechseln.
Zum Glück hatte sich ein Dachziegel leicht verschoben, und so fiel immerhin schwaches Licht auf den riesigen Boden. Iskas Augen brauchten einen Augenblick, um sich an das Dämmerlicht zu gewöhnen. Sie seufzte, versuchte Phyllis aus ihren Gedanken zu vertreiben, nahm sich vor, endlich mal die Glühbirne gegen eine neue auszuwechseln und den Ziegel
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