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Finkenmoor

Finkenmoor

Titel: Finkenmoor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Myriane Angelowski
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Blutungen, Blasensprung, ein geöffneter Muttermund. Krankenhaus, Notaufnahme, Neonlicht …
    »Natürlich erlasse ich dir einen Teil der Kosten, und wenn du Ivo nicht willst, kannst du ihn selbstverständlich auch zurücksenden …«
    Normas Frühstück schob sich in der Speiseröhre nach oben. Die Zeilen verschwammen vor ihren Augen. Der Zettel fiel ihr aus der Hand.
    Pädiatrie. Das Frühchen nicht viel größer als Normas Hand. Inkubator. Fachpersonal. Angst vor Risiken und bleibenden Schäden. Intensivmedizinische Betreuung. Ivo, Sorgenkind und Sonnenschein vom ersten Tag an.
    Norma wurde schwindelig, alles um sie herum drehte sich wie ein Kreisel. Sie suchte Halt, dabei warf sie drei Babys zu Boden. Schweiß brach ihr aus. Ihr massiger Körper kippte nach rechts, fiel der Länge nach auf den Teppich. Dort übergab sie sich auf Jason, Amy und Claire. Voller innerem Aufruhr wischte sie den schleimigen, sauer riechenden Brei mit ihren Händen von den Gesichtern ihrer Kleinen, krümmte sich währenddessen vor Schmerzen. Schluchzend und wimmernd drückte Norma ihre Babys an sich, versuchte aufzustehen.
    Es gelang ihr nicht. Erschöpft blieb sie liegen und stand an diesem Tag nicht wieder auf.
    Am nächsten Morgen fühlte sich Norma weder in der Lage, nach Ivo zu sehen, noch schaffte sie es, Claire und die anderen zu versorgen. Weinend fuhr sie schließlich den Rechner hoch und vertraute sich Dorit an.
    »Schick den Kleinen zurück«, riet die Freundin. »Du darfst Ivo nicht persönlich nehmen.«
    Norma fragte sich, wie sie das anstellen sollte. Sie kannte nichts Persönlicheres als Ivo, konnte den Karton nicht einfach zukleben, schaffte es nicht, den Jungen in die Dunkelheit zu sperren.
    Konzentrische Bruchlinien durch lokale Einwirkung. Fremdkörper hätte im Schädel belassen werden müssen. Schwerste Hirnverletzung. Erhebliche Zerstörung grundlegender Körperfunktionen. Kreislauf und Atmung fallen ab. Krampfanfälle. Hypovolämischer Schock. Lebend in Kiste verbracht.
    Unvorstellbar, grausam, schrecklich.
    Return to sender . Das gelang Norma nicht. Behutsam hob sie Ivo aus dem Karton, stieg ächzend auf die Trittleiter und legte ihn auf die oberste Ablage des Regals im Flur. Problem gelöst, hier konnte er atmen, hatte Platz, ohne dass sie ihn ständig ansehen musste.
    Als sie das Wohnzimmer betrat, suchte sie in den Augen der Zwillinge vergebens nach Verständnis. Es versetzte Norma einen Stich, dass auch Claire ihrem wässrigen Blick mit kalter Ablehnung begegnete.
    Einzig Jason schlief, wie immer.
    Norma fokussierte sich auf ihn, nahm den Kleinen auf den Arm, drückte ihn fest an sich und trug ihn ins Schlafzimmer. In dieser Nacht verriegelte sie die Tür sorgfältig von innen, versuchte, ihr schlechtes Gewissen, Ängste und die tiefe Trauer auszusperren.
    Sie atmete die halbe Nacht gegen ein Panikgefühl an, das sie umklammerte und ihr beinahe die Luft abschnürte. Gegen vier Uhr morgens glaubte sie Ivo zu hören. Der Kleine rief nach ihr. Gellend. Mit unerträglich hoher Stimme. Norma hielt sich die Ohren zu. Aber Ivo hörte nicht auf und rief nach seiner Mummy, bis die Sonne aufging.

Cuxhaven-Altenwalde
    Als sich nach gut acht Jahren Haftantritt die Tore der JVA für Rolf Kallwitz öffneten, konnte er nicht aufhören zu lächeln. Auch als er einige Stunden später die kleine Wohnung im Dachgeschoss bezog, die seine Mutter ihm in Altenwalde besorgt hatte, verging ihm das Grinsen nicht. Obwohl er die Ausstattung der Einliegerwohnung äußerst spartanisch fand und der Fernseher nur zehn Programme hatte.
    Alles besser als noch ein Tag im Knast.
    Abends verdrückte er sechs Wienerwürstchen, schlang mit gespielter Gier drei Teller mit Kartoffelsalat hinunter und trank zwei Flaschen Paulaner. Viel lieber hätte er gepflegt in einem Restaurant gesessen, vielleicht bei Lammkoteletts mit Bohnen, aber er behielt den Gedanken für sich. Er wollte seine Mutter nicht enttäuschen, die extra vorbeigekommen war, um ihm an seinem ersten Abend in Freiheit beizustehen, und ihn nun ungeniert aus kummervollen glasigen Augen anstarrte. Worte wechselten sie kaum und wenn, dann ging es belanglos zu. Vom Wetter fing er kurz an, sie regte sich über den Euro auf, ihr Lieblingsthema seit dessen Einführung, und schwärmte vom herrlichen Spargel, den sie am Sonntag für ihn zubereiten wollte. Um zwanzig Uhr komplimentierte er sie aus der Wohnung, drückte sie zum Abschied fest an sich, weil er wirklich dankbar war, dass sie ihm

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