Finkenmoor
Nach und nach wurde er ruhiger. Diane konnte doch ruhig Fotos ihres Kindes aufhängen. Was war schon dabei? Sie hatte ihre Tochter verloren. Plötzlicher Kindstod, das hatte sie ihm neulich erst anvertraut. Die Fotos von der Kleinen an der Wand zeigten bestimmt ihr Baby. Gut, Kilian fand die Menge etwas übertrieben, aber im Grunde ging es ihn nichts an. Dass Diane auch Bilder von Maxi aufgehängt hatte, daran gab es im Prinzip auch nichts auszusetzen. Diane vergötterte Maxi und machte keinen Hehl daraus.
Er atmete durch, fand Dianes Wohnung gemütlich. Helle Holzmöbel, Kerzen, rote Sitzkissen auf den Stühlen, die um den Esstisch standen.
Kilian öffnete die Tür zum Gefrierschrank, seine Kopfschmerzen wurden nicht besser. Er suchte ein Eispack und riss die oberste Schublade auf. Sie enthielt Spinat, Eiscreme und eine Tüte mit Briefen.
Ungläubig starrte Kilian auf den Stapel. Briefe im Gefrierschrank? Seine Neugier war geweckt, er nahm den Packen heraus und starrte wie hypnotisiert auf den Absender. Ronald Dallinger. Der Name ratterte durch die Windungen seines Gehirns. Mit klopfendem Herzen zählte Kilian die Umschläge.
Neun Briefe aus der JVA Hannover.
Was um alles in der Welt hatte Diane mit diesem Schwein zu schaffen?
Kilian zog willkürlich einen Brief aus dem Gefrierbeutel, setzte sich an den Küchentisch und begann zu lesen:
Mein Juwel,
wenn ich aufs Bett steige und mich auf die Zehenspitzen stelle, kann ich den Mond sehen. Den gleichen Mond, der auch bei dir scheint. Das können sie uns nicht nehmen!!
Ich versuche mir vorzustellen, wie du auf dem Balkon deiner kleinen Wohnung sitzt, Wein trinkst und in den Nachthimmel schaust, jetzt natürlich nicht. Es ist ja schon zu kalt. Aber im Sommer, wenn die Nächte lau sind.
Ich rieche dich, deine Briefe duften nach dir. Intensiv.
Vanille und Jasmin. Emporio She. Wie du siehst, habe ich mir den Namen deines Parfums gemerkt. Ich sauge alles auf, was mit dir zu tun hat. Nichts ist mir wichtiger.
Wie gerne würde ich dir dabei zusehen, wie du an dem Rotwein nippst, im Licht der Außenlampe in ein Buch versunken Seite für Seite umblätterst. Es sind diese kleinen Gesten, diese »unbedeutenden« Situationen, die ich mir immer wieder vorstelle.
Nicht rausgehen zu können, wenn mir danach ist, kein Bier im Kühlschrank und kein Spätfilm in deinem Arm. Und doch helfen mir genau solche Gedanken durch die endlosen eintönigen Tage und Nächte. Zu wissen, dass all dies draußen auf mich wartet, ist ein Geschenk. Schön, dass du so großen Anteil an mir nimmst. Ja, die Pfunde purzeln weiter!
Nun möchte ich aber versuchen, deine Fragen zu beantworten.
Ja, ich konnte das Urteil damals akzeptieren. Natürlich war die Verurteilung zuerst ein Schock. Aber immerhin hat das Gericht erkannt, dass ich nicht töten wollte, ansonsten wäre ich nicht so glimpflich davongekommen. So hatte ich mal wieder Glück im Unglück. Büttner (mein Rechtsanwalt) sagte mir gleich, dass ich bei guter Führung früher freikäme. Das hat mir echt geholfen.
Hier drin braucht man Perspektiven, sonst wird man verrückt.
Die meisten Leute machen sich nicht die Mühe, hinter die Fassade zu blicken, das stimmt! Vieles, was damals passiert ist, kann ich auch nicht mehr erklären. Ich war einfach innerlich so wütend, weiß aber auch nicht, wie ich zu solchen Taten fähig war.
In den Therapiesitzungen ging es anfangs oft um die Situation, die Umstände, unter denen der Junge zu Tode kam. Ich wollte ihn nicht töten, das hast du richtig erkannt, natürlich nicht. Aber es ist nun mal passiert.
Selbstverständlich kann ich meinen Eltern keine Vorwürfe machen, aber hätte mein Vater mich nicht gezwungen, mit ihm auf Geschäftsreise zu gehen, wäre ich sicherlich früher zu unserem Wochenendhaus gefahren, das ist doch logisch. Essen hatte ich dem Mädchen ja auch mitgebracht, das zeigt doch, dass ich sowieso nicht vorhatte, sie zu töten. Oder? Und den Jungen habe ich ja gar nicht entführt, der ist ja nur zufällig in die Geschichte hineingeraten, da konnte ich gar nichts für. Tragisch, natürlich.
Ich denke, ich war einfach in Panik. Ich habe im Affekt gehandelt, das hat der Richter letztlich ja auch bestätigt. Klar, es gibt heute noch Fragen, die mich umtreiben. Wirklich! Unterscheidet mich das nicht von einem Tier? Ist das nicht der deutlichste Beweis dafür, dass mich die Ereignisse alles andere als kalt lassen!?
Und ich bezahle schließlich auch dafür.
Mal sehen, vielleicht
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