Finkenmoor
schreibe ich den Familien doch noch mal ein paar Zeilen. Ich habe ihnen früher schon geschrieben, aber Büttner hat mir erzählt, dass sie die Annahme der Briefe verweigert haben. Ein bisschen gewundert hat mich das schon, immerhin war die ganze Sache da auch schon über ein Jahr her.
Ich wollte ihnen ja nur sagen, dass es wirklich keine Absicht war, dass der Junge starb. Ich habe es vor Gericht gesagt und wiederhole mich gerne: Ich wollte das Mädchen nicht töten und den Jungen schon gar nicht, und natürlich tut mir auch leid, was geschehen ist. Aber irgendwann muss es ja auch mal gut sein, ich meine, ich werde mein Leben lang immer damit leben müssen. Das ist nicht einfach, und ich denke, da muss Vergebung drin sein, oder?
Außerdem lebt die Kleine doch, oder?
Du weißt, dass ich an Gott glaube, und viele Menschen beten jeden Tag zu ihm, rennen in die Kirche und lauschen den Worten der Heiligen Schrift. Aber wenn es drauf ankommt, wenn es wirklich mal was zu verzeihen gibt, dann klappt das nicht so gut, finde ich. Nun ist es bis zu meiner Entlassung ja nicht mehr lange, und irgendwann muss doch mal Gras über diese Geschichte wachsen. Schön, dass wir da gleich denken!
Was mich außerdem auf die Palme bringt, ist die ständige Frage nach dem Vergessen: »Herr Dallinger, denken Sie manchmal an die Kinder?«
Was für ein Schwachsinn. Natürlich denke ich daran. Wie soll ich denn so eine Geschichte vergessen? Was glauben die Leute eigentlich? Ich vergesse doch nicht, was ich getan habe, nur weil ich mal pfeifend über den Flur gehe oder bei einem Film laut lache. Ich bin es nur satt, immer wieder darauf angesprochen zu werden.
Versprich mir, dass du mir niemals diese blöde Frage stellst! Nein, du brauchst es nicht zu versprechen, ich weiß, dass du mich völlig anders siehst. Deine Briefe sind so liebevoll, so behutsam und aufrichtig. Deshalb finde ich das, was zwischen uns ist, so wohltuend. DU machst mir keine Vorwürfe. DU nimmst mich an, wie ich bin, obwohl du weißt, was ich getan habe. Aber bei dir habe ich das Gefühl, sicher zu sein. DU bist der Engel, den Gott mir geschickt hat, und das kann doch nur bedeuten, dass Gott mir verziehen hat. Das macht mich glücklich. DU machst mich glücklich, meine Liebe. Alle Gedanken, die ich über dich habe, machen mich froh.
Klar, manchmal überkommt mich so eine Panik. Dann stelle ich mir vor, dass du einen anderen kennenlernst, der dein Herz erobert. Was hätte ich da für eine Chance! Eine Frau wie du kann an jedem Finger einen Kerl haben, dessen bin ich mir bewusst. Aber was kann ich tun? Ich kann die Dinge nur geschehen lassen und das Beste hoffen, darauf vertrauen, dass alles, was du mir schreibst, wirklich stimmt, dass du tatsächlich all diese wunderbaren Gefühle für mich hast.
Dass du mir eine Bleibe für den Übergang besorgen willst, finde ich ganz großartig, und ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll, dass du das für mich machst.
Ich bin auch wirklich bescheiden. Hier lernt man, keine Ansprüche zu stellen. Ein Zimmer mit Bad reicht mir, und natürlich wäre es schön, wenn es in der Nähe von Cuxhaven ist, damit du nicht so weit weg bist. Aber es wird schwer, was zu finden, glaube ich. Wer vermietet schon an einen Ex-Knasti!
Meine Mutter kann nicht glauben, dass ich wieder an die Nordsee möchte. Aber mit dir wird es dort wunderbar sein.
Themenwechsel, sonst werde ich noch sentimental!
Wenn du auf den Weihnachtsmarkt fährst, kannst du mir dann gebrannte Mandeln besorgen? Ich hätte so gern mal wieder welche, manchmal rieche ich diesen Karamellgeruch förmlich. Und so wie ich abnehme, kann ich etwas Zucker gebrauchen. Nein, hier gibt es wenig Vorweihnachtliches. Stimmung kommt da gar nicht auf. Den Kranz im Eingangsbereich wirst du ja sehen, wenn du vor Weihnachten kommst. Er ist ziemlich scheußlich. Lila und silbern, grässlich!!! Und dann diese unechten Kerzen! Aber egal, schon das übernächste Weihnachtsfest feiern wir zusammen.
Jetzt muss ich aufhören, gleich gibt es Abendessen.
Mein Juwel, du weißt, dass ich dich endlos vermisse. Was soll die Frage?! In meinen Gedanken bist du nur du nur duuuuuuuu!!! Vergiss das niemals. Ich liebe dich aufrichtig. Dein Ronny
Der Brechreiz überkam Kilian von jetzt auf gleich. Er schaffte es gerade noch rechtzeitig ins Bad, übergab sich und bekam gleichzeitig Durchfall. Über eine halbe Stunde traute er sich nicht von der Toilette. Einerseits wünschte er sehnlichst, dass er die
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