Finn und der Kristall der Zeit (German Edition)
genau, dass sich der alte Wilhelm noch ausgesprochen gut an die damalige Nacht erinnerte. Wilhelm hatte ihm ja selber oftmals in allen Einzelheiten erzählt, wie er ihn in jener Nacht nach diesem lauten Donnerschlag auf den Stufen von St. Bonifaz gefunden hatte, wie er sich das kleine Bündel gepackt und ihn so schnell wie möglich zur Polizeistation gebracht hatte, um ihn dort genauer anzusehen. Dann hatte man ihn zurück in die Decke gewickelt und hatte entschieden, ihn zum Waisenhaus zu bringen, wo man ihn Rosie in die Arme gedrückt hatte.
„Würden Sie uns bitte trotzdem die Adresse dieses Nachtwächters geben?“, fragte Lydia höflich.
Der Polizist zog unwillig die Augenbrauen zusammen.
„Sie brauchen nur die Straße hinunter zu gehen“, sagte er dann.
„Das Armenhaus ist am Ende der Straße, ein graues Steinhaus. Sie können es nicht verfehlen.“
Mit diesen Worten wandte er sich demonstrativ wieder irgendeiner Arbeit an seinem Schreibtisch zu.
„Vielen Dank!“, sagte Heinz übertrieben höflich, bevor er sich den alten Zettel griff. Dann ging er zur Tür und hielt sie für seine Frau und Finn auf.
Draußen holten die beiden Erwachsenen tief Luft.
„Denkst du, er sagt die Wahrheit?“, fragte Lydia ihren Mann. Der zuckte die Schultern.
„Ich kann es mir nicht vorstellen“, antwortete er dann.
„Wenn er die Wahrheit sagt, dann hat irgendjemand den Jungen wohl vorher gefunden.“
Lydia warf Heinz einen scharfen Blick zu und wandte sich dann an den Jungen.
„Finn, weißt du, wir wollen so viel wie möglich über dich herausfinden. Wir wollen damit vermeiden, dass dich irgendjemand uns wegnehmen kann, verstehst du? Die Wolldecke, in der du gefunden worden bist, gibt es nicht mehr, sagt dein Fräulein Winter, und das hier“ – sie zeigte auf den Zettel in Heinz‘ Hand – „ist die Nachricht, die mit in der Decke lag.
Wir wollen einfach nur sicher gehen…“
Sie zögerte.
„Wir befragen einfach noch einmal kurz den Nachtwächter, vielleicht fällt ihm ja doch etwas ein, in Ordnung?“
Finn nickte.
Heinz öffnete die Autotür, damit Finn auf den Rücksitz klettern konnte. Finn wunderte sich ein wenig – für eine so kurze Strecke musste man doch eigentlich kein Auto benutzen. Aber vielleicht war das bei reichen Leuten immer so, dass sie lieber das Auto benutzten, statt zu Fuß zu gehen – wenn man schon eines hatte.
Nach wenigen Minuten kamen sie am Armenhaus an.
Heinz guckte über seine Schulter nach hinten.
„Würde es dir etwas ausmachen, kurz hier im Auto zu warten? Du kannst dich, wenn du willst, nach vorne setzen und ein wenig Autofahren spielen. Allerdings solltest du lieber nicht auf die Knöpfe drücken. Wir wollen das Auto schließlich nicht aus irgendeinem See wieder herausfischen müssen.“
Begeistert kletterte Finn hinter das Lenkrad und tat, als würde er fahren. Innerhalb kürzester Zeit begann sich eine Schar kleiner Kinder um das Auto zu versammeln. Finn genoss das Gefühl, nicht mehr nur der arme Waisenjunge zu sein, auf den alle herab blickten, sondern plötzlich im Mittelpunkt des Interesses zu stehen und beneidet zu werden.
Nur allzu bald kamen seine neuen Eltern aus der Tür des Armenhauses heraus. Sie diskutierten eifrig miteinander, aber als sie zum Auto sahen, um das sich inzwischen eine kleine Menschentraube gebildet hatte, stoppten sie ihr Gespräch und lächelten.
„Ab nach hinten mit dir, junger Mann!“, sagte Heinz und hielt die Tür auf. Finn kletterte aus dem Auto und an der Gruppe Kinder vorbei, die ehrfürchtig Platz gemacht hatte, auf den Rücksitz. Heinz startete den Motor. Dann fuhren sie aus Burgfeld hinaus; verließen die kleine Stadt, die mehr als neun Jahre lang Finns Heimat gewesen war.
Finn war nie zuvor in Hohenstadt gewesen. Er saß mit großen Augen auf seinem Rücksitz und betrachtete von dieser sicheren Warte aus das bunte Treiben auf den Straßen.
Viele Menschen waren unterwegs, auf den Straßen fuhren Straßenbahnen und Automobile, und es gab auch einige Kutschen, genau wie Rosie es in ihren Briefen geschildert hatte. Die Häuser waren groß, standen eng beieinander, und an den Bürgersteigen gab es Geschäfte mit blitzenden Fensterscheiben, vor denen Kinder standen und sich die Nasen platt drückten. Finn hätte sich gerne zu den Kindern gesellt und ebenfalls die Schaufenster bewundert, aber das konnte er seinen neuen Eltern schlecht sagen. Also schwieg er und versuchte nur, möglichst viele von den neuen
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