Finn und der Kristall der Zeit (German Edition)
Inga leise. „Obwohl… am meisten ist es wohl unsere eigene Schuld. Es musste alles so schnell gehen damals, und wir haben wohl nicht richtig nachgedacht. Wenn man in Panik ist, passiert das schon mal.“
Finn dachte daran, wie Martin eben an der Sophienkirche vorbei gefahren war, und nickt verstehend.
„Wir müssen zuerst einmal einen Ort suchen, an dem wir uns in Ruhe unterhalten können“, unterbrach Martin sie. „So eine Kirche ist dafür vielleicht nicht so ganz geeignet.“
Inga warf einen Blick zu den Beichtstühlen hinüber und nickte. „Und wir brauchen andere Kleidung“, flüsterte sie.
„Vielleicht finden wir in der Sakristei etwas?“, schlug Martin vor.
„Wir können doch nicht den Pfarrer beklauen“, entfuhr es Finn.
Martin warf ihm einen nachdenklichen Blick zu. „Nein, das können wir wohl nicht“, sagte er dann langsam und lächelte ihm zu.
„Außerdem, wie würde das aussehen, wenn zwei große und drei kleine Pfarrer die Kirche verließen?“, schmunzelte Inga. Bei der Vorstellung mussten auch die Jungen lachen.
„Wie eine Entenfamilie“, grinste Tom.
Finn fiel plötzlich etwas ein. „Ich glaube“, sagte er, „ich habe eine Idee, wo wir Kleidung finden könnten!“
Im Gegensatz zur Zukunft waren die Kellerräume im Nebengebäude der Sophienkirche nicht abgeschlossen, und es bereitete ihnen keinerlei Mühe, ungesehen hinein zu gelangen. Finn hatte Recht - zwar gab es hier noch nicht jenes unübersehbare Durcheinander, das bei ihrem ersten Besuch in diesem Raum geherrscht hatte, aber auch heute schon wurde der Raum als Lager für alles Mögliche benutzt. Und es gab auch schon die Garderobe, die selbst im Jahre 1925 schon bessere Tage gesehen hatte, und an ihr hingen wie achtzig Jahre später einige Kleidungsstücke.
„Großartig, mein Junge“, sagte Martin lobend. Er nahm eine dicke graue Jacke vom Haken und reichte sie seiner Frau, dann suchte er sich etwas aus, das ein wenig aussah wie ein Malerkittel und zog es über. Für die Jungen fanden sich zwei Pullover und eine ziemlich speckige Strickjacke, die Jacob zuerst misstrauisch beäugte, bevor er sie über seinen Pullover zog.
„Die Hosen fallen wohl nicht so auf“, sagte Martin mit einem Blick auf die Kinder, „und an den Schuhen können wir nun wirklich nichts ändern.“
„Aber Inga kann doch so nicht rumlaufen“, sagte Tom schüchtern. „Sie sieht mit ihren langen Haaren immer noch aus wie eine Frau, und Frauen tragen nun einmal keine Hosen. Also, nicht in dieser Zeit.“
„Wie gut, dass wir euch dabei haben“, lächelte Inga. Nachdenklich sah sie sich in dem Raum um. Mützen oder Hüte gab es hier nicht. Schließlich stopfte sie sich das lange Haar kurz entschlossen in den Jackenkragen.
„Das muss reichen“, sagte sie energisch.
„So, ihr Experten“, grinste Martin, „jetzt müsst ihr uns weiter helfen. Wo, denkt ihr, sind wir am besten aufgehoben?“
Die Jungen sahen sich an. Jeder dachte daran, wo er in dieser Zeit sein Zuhause hatte. Frau Winter würde die Jungen und ihre Familie sicher aufnehmen. Andererseits würde sie viele Fragen stellen. Da war es besser, in das alte Haus zu gehen, in dem Tom mit seinen Freunden lebte. Allerdings war es da kalt, und ob sie etwas zu Essen bekommen würden, war auch nicht unbedingt sicher. Und Geld hatten Inga und Martin sicher nicht mitgenommen; jedenfalls nicht das Geld, was man in dieser Zeit hier benötigte. Und Jacob? Tom und Finn kannten seine Eltern nicht. Würden sie ihnen helfen?
Ohne zu sprechen dachten die Jungen dasselbe. Schließlich nickte Jacob. „Ich denke, bei meinen Eltern ist es im Moment am sichersten“, sagte er. Dort bekommen wir etwas zu essen und auch au… wie war das Wort?“
„Authentisch“, lächelte Inga.
„Ach ja, authentische Kleidung. Außerdem würde ich sie gerne sehen“, setzte er hinzu und wurde ein wenig rot, während er den Boden anstarrte.
Inga kniete sich vor ihn und hob sanft sein Kinn, so dass sie ihm in die Augen sehen konnte. „Ich würde deine Eltern auch gerne kennenlernen“, sagte sie leise. „Dass aus meinem einen Sohn drei geworden sind, ist noch sehr überraschend für mich, aber eins ist sicher: Du bist mein Sohn, und ich habe all die Jahre mit all meiner Liebe an dich gedacht und gehofft und gebetet, dass es dir gut gehen möge. Und das hat es – deine Eltern haben dir ganz offensichtlich eine wunderbare Kindheit geschenkt. Ich möchte sie gerne kennen lernen und mich bei ihnen
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