Finne dich selbst!
zweitens. Überall stehen die Verkehrsschilder: Elch kreuzt. Analog zum deutschen »Wildwechsel« bedeutet es sicher »Elchwechsel«.
»Vorsicht, Elch!« sehen wir auf den ersten 120 Kilometern bestimmt neunmal. Aber wir sehen keinen einen!
Hermann sagt: »Diese Schilder stehen ja dauernd an den Straßen. Es würde doch reichen, wenn die direkt hinter der finnischen Grenze ein Schild davon aufstellen mit dem Zusatz: Gilt für ganz Finnland.«
Ich lasse das Fenster runter, und wir atmen Finnland.
»Riecht auch nicht anders als zu Hause!«, sagt Hermann.
»Was hast du denn erwartet?«, fragt Ilse.
Dann schweigen wir wieder. Der Ostwestfale sagt wohl auch nicht viel mehr als der Finne, denke ich. Das ist eine große Kunst, das Schweigen. Das muss man aushalten können, auf beiden Seiten. Und ideal ist es, wenn »es einfach schweigt«, ohne dass einer denkt oder merkt, dass man innehält. Ostwestfalen wie Finnen sind sehr wahrscheinlich zum Meditieren talentiert wie keine andere Volksgruppe. Man muss die Welt auch mal in Ruhe lassen können. Robert Gernhardt, der große Dichter, schrieb einst als elftes Gebot: »Du sollst nicht lärmen!« Davon weiß der polternd-perlende Rheinländer leider nichts. Wir schweigen.
Wir durchfahren schönste Waldlandschaften. Nur dass Finnland eigentlich ein einziges Gesamtwaldstück ist. Es gibt ohnehin nur wenige Autobahnen hier. Die Reisegeschwindigkeit ist absolut begrenzt. Wir fahren lediglich einige Kilometer auf der Valtatie 4 , der Staatsstraße 4 von Helsinki nach Jyväskylä, die hier tatsächlich eine veritable Autobahn ist, und dann kommt schon die Ausfahrt Lahti. Wir kommen genau um 12 Uhr 30 an. Punktlandung.
Axels Anfahrtsbeschreibung bringt uns direkt zum Haus. Davor ein offener Platz, ein Teil davon mit Rasen bewachsen und darauf eine kleine Sitzecke, links begrenzt von den Garagen. Das Haus fünfstöckig, auf jeder Etage drei bis fünf Wohnungen. Axels Schwiegereltern wohnen Halbparterre, unten links. Axel und Viivi selber wohnen seit kurzem im vierten Stock des gleichen Hauses. Axel sitzt im Garten. Mein Bruder ist mittlerweile wieder Student. Er genießt seine Mittagspause. Er kommt uns entgegen und strahlt.
Vielleicht sollte ich hier meinen Bruder ausführlicher vorstellen. Er überragt uns andere Familienmitglieder fast um Haupteslänge. Ilse, Hermann und ich sind alle locker unter 1 , 70 . Axel ist ein schlanker Mann von 1 , 80 . Die Haare raspelkurz, dafür mit gewaltigen Koteletten. Brillenträger. Meistens jedenfalls. Ein echter Rock ’n’ Roller. Er trägt eigentlich immer Jeans und Chucks, das sind Leinenschuhe, und ständig T-Shirts seiner Lieblingsbands aus Rockabilly und Psychobilly. Ohrring. Tattoos. Cooler Bursche. Man hält uns nicht unbedingt für Brüder.
»Tag, Axel!«, sagt Ilse.
Die beiden umarmen sich. Ich staune.
»Hallo, Kleiner!«, sagt Hermann.
»
Terve!
«, sagt Axel.
»Watt heitet datt denn?«
»Das heißt so viel wie Moin. Guten Tag eben.«
»Ja, dann:
Terve!
«
Und Axel nimmt auch ihn in den Arm.
»Moin!«, sage ich. Wir geben uns die Hand.
»Wie war die Fahrt?«
»
Hyvä
«, sage ich.
Hermann sieht mich sprachlos an.
»Das ist Finnisch und heißt gut.«
»Seit wann kannst du Finnisch?«
»Das ist so ziemlich mein einziges Wort.«
Dann stehen Axel und ich voreinander. »Und?«, frage ich ihn.
»Muss!«, antwortet er.
Das wirkt nach außen vielleicht sehr nüchtern, ist aber in Wahrheit tief und gefühlig.
In diesem Frage-Antwort-Wechsel liegen unausgesprochen emotionalste Informationen. Wir hatten uns zwar Monate lang nicht gesehen, trotzdem ist unsere Begegnung oberflächlich betrachtet absolut unspektakulär. Ostwestfälisch nüchtern. Mehr nach dem Motto: Wer zu viel Gefühle zeigt, hat verloren. Aber das ist tief drinnen nicht weniger herzlich als bei denen, die sich minutenlang in den Armen liegen. Allein wenn wir Ostwestfalen fragen »Und?«, dann ist das Philosophie und Seelsorge zugleich. Das geht viel tiefer als das neuzeitliche »Hey, was geht?«. Das ist ein ehrliches Interesse am Gegenüber, die Frage nach dessen Sein und Wollen, regelrecht die Frage nach dem Urgrund. Und die Antwort »Muss!« ist pragmatisch, ehrlich und ironisches Spiel zugleich. In ihr schwingen im Subtext tausend Informationen mit. Man kennt danach im Grunde den Kontostand, die Pulsfrequenz und den Blutdruck des Gegenübers, man weiß um Scheidungen und Verliebtheiten. Die Frage »Und?« stellt man niemandem, der
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