Finne dich selbst!
hatten. Unsere Finnen staunen. Hier wurde noch nie mit Wasser gespart.
»Samstags kamen alle in die Wanne. Erst Axel und Bernd, dann ich, dann Hermann.«
»Hermann immer als Letzter?«
»Ja, der war ja auch der Dreckigste von allen!«
Der kleine Räucherofen bollert vor sich hin, wir Männer sitzen um den Tisch und trinken Bier. Alle ganz unterschiedliche Typen, die sich trotzdem bestens verstehen. Wir nicken uns zu. Wir müssen nicht viel reden. Wir verstehen uns und mögen uns. Ostwestfalen und Finnen.
Hermann, Axel und ich haben die Haare raspelkurz, Matti hat seine zu einem langen Zopf gebunden. Die beiden Väter sitzen sich gegenüber und grinsen sich an. Zwei ältere Herren mit Ohrringen. Ich fühle mich kurz nackt im Ohr, hätte aber ehrlich gesagt viel zu viel Angst vor dem Schmerz. Ich finde, man soll keine Löcher in Menschen machen, außer im Western.
Matti fragt nach Hermanns Ohrring. Das Loch hat er seit fast 60 Jahren. Es ist für den Ohrring der Zimmererzunft und stammt aus der Zeit, als Hermann noch als Geselle wanderte, eine Tradition, die in Finnland unbekannt ist. Deshalb muss Hermann ein wenig ausholen. Er berichtet, dass es in Deutschland fünf sogenannte »Schächte« gibt, in denen wandernde Gesellen organisiert sind. Hermann war bei den »Blauen«, den Rolandsbrüdern, gegründet von Bremer Handwerkern und benannt nach dem Bremer Roland als Symbol der Freiheit. Der Zimmermann auf Wanderschaft trägt die traditionelle Kleidung, schwarze Cordhose mit Schlag, damit bei der Arbeit keine Holzspäne in die Schuhe fallen, Weste und Jacke, die weiße Staude, ein kragenloses Hemd, bei den Rolandsbrüdern mit der blauen »Ehrbarkeit« versehen, einer gehäkelten Krawatte, Hut mit breiter Krempe, damit einem von oben aus dem Gebälk keine Späne oder anderes auf den Kopf und in den Nacken rieseln können. Und dazu einen Ohrring mit dem jeweiligen Handwerkswappen, den man auf der Wanderschaft traditionell als Zunftabzeichen trägt. Hermann hat seit Jahrzehnten einen Stecker, um das Loch offen zu halten, wenn er für die traditionellen Zunfttreffen seiner Rolandsbrüder, dem »Aufklopfen«, zu denen er als »Einheimischer«, als ehemaliger Wandergeselle immer noch geht, den Ohrring wieder einsetzen will. Alle neuen Freunde und Bekannten sagen uns jedes Mal, wie »cool« es sei, dass unser Vater einen Ohrstecker trage.
Hermann ist fünf Jahre lang gewandert. Drei Jahre und ein Tag sind Pflicht bei den Rolandsbrüdern. In dieser Zeit darf man nicht näher als 60 Kilometer an den Heimatort herankommen. Nach drei Jahren war Hermann nur einmal kurz zu Hause und ist gleich noch einmal für zwei Jahre weitergezogen, nach Süddeutschland, in die Schweiz, nach Norditalien. Matti fragt, warum man das mache.
»Du sollst Erfahrungen sammeln«, erklärt Hermann, »du sollst dich als Handwerker und Mensch weiterentwickeln, neue Techniken lernen, alles zur Ehre des Handwerks.«
»Und jeder kann das machen?«
»Du musst Geselle sein, in einem Bauhandwerk. Wer wandern will, muss außerdem ledig sein, schuldenfrei und nicht älter als 27 Jahre. Das war mein erster Satz, als ich nach den fünf Jahren zu meiner Mutter zurückkam: ›Hier bin ich, schuldenfrei zurück!‹«
Die Handwerksschächte sind echte Bruderschaften. Ich erzähle eine Geschichte aus den Siebzigern, als ich, als Jugendlicher damals, einen Rolandsbruder traf, auf »Tippelei«, zu Fuß unterwegs. Auf dem Weg von Petershagen nach Minden kam er durch unser Dorf. Ich sprach ihn an und erzählte ihm, dass mein Vater auch bei den Rolandsbrüdern gewesen sei. Er kam mit zu uns nach Hause, und ich hatte für die folgenden drei Monate kein eigenes Zimmer mehr. Der Geselle aus der Schweiz wohnte bei uns und war sofort Teil der Familie.
Die Damenriege stößt zu uns, Kati, Ilse und Viivi. Matti holt den Lachs aus dem Ofen. Dazu gibt es Salat, Frühkartoffeln und Lapin Kulta, finnisches Gold, gekühltes Dosenbier. Wir mutieren langsam zu Finnen. Matti sagt grinsend: »Lapin Kulta ist wie Rentier-Pisse!« und spricht überraschend deutsch. Ich lasse mich davon nicht abhalten.
Wir sitzen und reden und essen. Die Mücken halten sich vornehm zurück. Axel berichtet von seinen ersten Wochen in Finnland. Dem Frust damals, keine Stelle zu finden. Er hatte gedacht, eine Stelle als Hilfsarbeiter auf dem Bau oder etwas Ähnliches sei immer zu kriegen. Aber mit seiner Ankunft holte die Wirtschaftskrise auch die Finnen ein. Viele wurden arbeitslos,
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