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Finne dich selbst!

Finne dich selbst!

Titel: Finne dich selbst! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Gieseking
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krankenversichert und konnte mit seinem Pass in jedes Krankenhaus des Landes gehen. Es gab quasi nur eine kostenlose AOK . Das staatliche Krankenhaussystem brachte viele medizinische Bereiche zur Blüte, es wurde gefördert und geforscht, europaweit wurde neidisch nach Finnland geschaut. Durch die gewachsenen Ausgaben für Verwaltung, die Privatisierung und damit Gewinnmaximierung im Gesundheitsbereich in den letzten Jahren wurde das System erst aufgeweicht und dann zerstört. Auch unsere Probleme, für Ilse kurzfristig einen Arzt zu finden, seien darin begründet, sagt Hajo. Aber damals waren die klassenlose Versorgung der Bevölkerung, die Enthierarchisierung im Inneren der Kliniken, das freundliche und formlose »Du« untereinander statt des ständischen »Sie« für die finnisch-deutsche Mischehe von Hajo und Anna Maj gewichtige Gründe, nach Kokkola zu ziehen.
    Hajo erkundigt sich nach Göttingen, nach Kassel, nach Wolfhagen. Das Nordhessische ist meine zweite Heimat, ich habe in Kassel studiert und bin dort bis heute verortet, ich kann also reichlich Auskunft geben, über Kunst, Kultur, über Caricatura und Documenta, über traditionelle Kneipen und Orte, Göttingens Nörgelbuff und die Galerie Apex genauso wie über das Heimatmuseum Wolfhagen, wo ich sogar schon mit Hermann und Ilse Jahre zuvor in einer Fachwerkausstellung gewesen war.
    Dann frage ich: »Sag mal, Hajo, Reinhard kommt ja fast jedes Jahr zu euch.« Hajo nickt. »Er sagte mir, ihr habt hier einen seltsamen Verein …«
    »Seltsam?«, unterbricht mich Hajo gespielt empört, »seltsam ist wohl kaum das angemessene Wort für einen so verdienstvollen Zusammenschluss.« Und dann zelebriert er diesen Titel: »Wir sind der ›Verein der unterdrückten Männer‹!«
    Ilse verschluckt sich fast an der Rhabarbercreme. »Bitte?«
    Hermann grinst: »Kann man da noch Mitglied werden?«
    Als Dessert zum Dessert hören wir jetzt eine typisch finnische abgefahrene Geschichte. Die Gründungsgeschichte des SMY , des
Sorrettujen Miesten Yhdistys
, des Vereins der unterdrückten Männer. Den SMY gibt es seit fast 35  Jahren, und eines der vier Gründungsmitglieder ist – überraschenderweise – ein Deutscher, nämlich unser Gastgeber. Hajo. Er grinst, lehnt sich zurück, zieht genüsslich an der Pfeife und erzählt. Anna Maj und Hajo wohnten damals mit ihren Kindern auf dem Klinikgelände. Im gleichen Haus lebte auch Pentti mit Frau und Kindern, ein Feuerwehrmann. Seine Frau war Augenärztin. Im Nachbarhaus wohnten ein weiterer Feuerwehrmann, verheiratet mit einer Krankenschwester, und ein angehender Röntgenarzt mit seiner Familie. Die vier Männer lernten sich bei gemeinsamen Saunagängen kennen. Alle vier Familien hatten Kleinkinder im ähnlichen Alter. Während die Männer tapfer schwitzten, versorgten die Frauen die »Lütten« und umgekehrt.
    An einem Frauen-Sauna-Abend stellten die Männer einen Fernseher neben den Sandkasten, in dem die Kinder spielten. Es kam ein wichtiges Fußballspiel. Dazu wurde kistenweise Bier gereicht. Als die Frauen zurückkamen, war kein einziges Kind im Bett, aber alle, Kinder wie Männer, waren bester Laune. Nur die Frauen dann nicht mehr. Zu Recht eigentlich, wie Hajo sagt.
    »Ach, so sauer waren wir auch wieder nicht«, meint Anna Maj.
    Auf jeden Fall bekamen die Herren reichlich Ärger. Die Männer in ihrer Not sannen auf Hilfe. Selbsthilfe. Die Gescholtenen gründeten den »Verein der unterdrückten Männer«. Erst mehr als Witz gedacht, wurde der Verein immer mehr zur Realität, definierte einerseits die Freundschaften der Paare untereinander und führte andererseits in der Folge zu vielen karitativen Aktionen. Der Kreis der »unterdrückten Männer« erweiterte sich, und als auch noch ein Opernsänger dazustieß, dauerte es nicht lange, und die »Unterdrückten« organisierten ein Weihnachtskonzert als Benefiz-Veranstaltung für das Kinderkrankenhaus. Veranstalter: Der SMY !
    Es ist fast Abend. Wir machen einen Spaziergang in die Stadt. Anna Maj und Hajo wollen uns Kokkola zeigen. Auf dem Marktplatz ist ein Fest, außerdem Markttag. Der Platz wird von Hotelbauten begrenzt, dem Rathaus und einem mächtigen Zweimaster, der am Ufer des s
unti
, des Sund, liegt. Seit 20  Jahren diskutieren die Stadtverantwortlichen, ob man diesen Wasserarm wieder zum Meer öffnen sollte, ob man den
sunti
wieder schiffbar machen solle, erzählt Anna Maj. Früher war Kokkola ein bedeutender finnischer Seehafen für die Fischer und die

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