Finne dich selbst!
Tampere plötzlich selbst wie in einem der skurril komischen Kaurismäki-Filme.
»Er musste nach Hause, weil sein Hund gekotzt hat?«, wiederholt Paula ungläubig.
»Hat er gesagt.«
»Mama, und dann?«
»Kaum war er weg, kam dein Vater und fragte, ob er nun mit mir tanzen könne, wo Aki endlich weg sei.«
»Und dann?«
»Dann hat mir dein Vater gesagt, dass er mich sehr schön findet und interessant und er sei der Meinung, er und ich würden sehr gut zueinanderpassen.«
Marja sieht mich an und sagt: »Und dann war ich die nächsten 30 Jahre mit ihm zusammen. Bis zu seinem Tod.«
Ups! Ich umgehe erst mal die Schwere der Information.
»Ihr wart alle zusammen in einer Klasse?«, frage ich.
»Es waren viele talentierte Menschen in der Klasse. Irgendwie eine sehr besondere, glückliche Zusammenstellung. Einer wurde zum Beispiel ein großer Arbeiterführer in einer Gewerkschaft. Es waren politische Jahre. Wir wollten die Welt verändern. Aber Aki war noch mal anders. Er kam im letzten Highschool-Jahr mit seinen Eltern nach Tampere. Wir anderen hatten alle gearbeitet in den Semesterferien, das machte man damals und auch heute noch so in Finnland, und Aki kam in unsere Klasse, und ich fragte ihn, wo er denn gearbeitet habe. Er sagte, er habe nicht gearbeitet, er sei den ganzen Sommer über in Paris gewesen und habe einen Film nach dem anderen gesehen. Und mit leuchtenden Augen erzählte er von Godard, von Chabrol, von Truffaut. Mir sagten diese Namen damals überhaupt noch nichts.«
»Gibt es noch Kontakt zwischen euch?«
»Wir hatten gerade ein Klassentreffen, und er hat uns alle aus seinem Domizil in Portugal grüßen lassen.«
Paula war wieder zu einer Führung in das Museum gegangen.
»Woran ist dein Mann gestorben?«, frage ich.
Meine Mutter wirft mir einen Blick zu, der besagt, dass man so was besser nicht fragen sollte.
»Alkohol«, sagt Marja.
Wie zur Erklärung fügt Telle hinzu: »Es gibt Moll-Völker und Dur-Völker. Die Finnen sind ein Moll-Volk. Finnische Männer leiden. Dann greifen sie zum Trost zu Alkohol und Zigaretten.« Es gebe auch viele Suizide. Ungarn, Esten, Japaner und Finnen führten die Selbstmordstatistiken an. Es sei doch bemerkenswert, dass dabei zumindest die Ungarn, die Esten und die Finnen sprachlich verwandt seien.
Ob sie eine Erklärung hätten dafür? Letztlich nicht. Und größtenteils seien es Männer, die sich selbst töteten.
Darüber habe sie eine Vermutung, sagt Telle. Frauen seien vor allem agiler. »Wenn Frauen keine Arbeit bekommen, dann gehen sie weg. Darum sind in den sechziger, siebziger und achtziger Jahren so viele Finninnen beispielsweise nach Berlin gegangen.« Männer würden viel stärker verharren und dann eben manchmal resignieren. Das würde sie an den Deutschen so schätzen, die diskutierten viel mehr. Die würden keine Konflikte vermeiden, sondern eingehen. Die Finnen seien da anders.
»Die Ausnahme ist deine Familie«, wirft Marja ein.
»Ja, wir sind eben Karelier. Die sind lebendiger!«, lacht Telle. »Es gibt Finnen, die fahren 20 Jahre lang immer zusammen in den Urlaub und verbringen dort zwei Wochen ohne zu reden.« Sie würden freundlich glücklich schweigen. »Das hat schon Bertolt Brecht gesagt: Die Finnen sind ein Volk, das in zwei Sprachen schweigt, auf Finnisch und auf Schwedisch.«
Marja pflichtet ihr bei. Die Franzosen würden oft repetieren, wiederholen, was der andere gesagt habe, aber keine Konversation betreiben. »Wir Finnen reden nur, wenn wir große Sachen zu besprechen haben.«
Wieso Brecht denn die Finnen so gut gekannt habe, frage ich.
Er sei doch hier über ein Jahr im Exil gewesen. Ob ich nicht das Stück »Herr Puntila und sein Knecht Matti« kennen würde?
Ja, schon.
Das habe er zusammen mit der Finnin Hella Wuolijoki geschrieben. Die Tantiemen würden bis heute zwischen beiden Familien geteilt, auch wenn Brecht als der eigentliche Autor gelte. Die erste Fassung des Stückes aber stamme von ihr. »Die Sägespäneprinzessin« war der Titel. Später saß sie im Reichstag, war die Vorsitzende der Linkspartei »Demokratische Union des Finnischen Volkes« und war Direktorin des Finnischen Rundfunks.
Telle schüttelt die Fakten aus dem Ärmel, frauenbewegt und national- und traditionsbewusst, wie sie ist. Telle lebt inzwischen in Neuruppin, ist Lehrerin an einer berufsbildenden Schule und arbeitet mit Schülern mit Handicap. Sie bietet dort auch Sprachkurse an, auf Schwedisch und Finnisch. »Wenn meinen Schülern
Weitere Kostenlose Bücher