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Finnen von Sinnen - Finnen von Sinnen

Titel: Finnen von Sinnen - Finnen von Sinnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Eilenberger
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gleiten. Noch singt kein Vogel. Nur die Kröten sind hellwach und springen vor unseren Schritten in die Büsche.
    Wir erreichen den Ort, wo sich der Pfad in zwei Arme teilt, den einen, der ziemlich gerade zum Garagenunterstand,
talli , und schließlich der Ausfahrt führt, lassen wir liegen, um den anderen einzuschlagen, der sich rechts, vorbei am Brunnen sachte zum Mökki hinaufwindet.
    Ukki hat die kone hinaus auf den Vorplatz gefahren. Kone heißt auf Finnisch »Maschine«. Ursprünglich ein Sitzrasenmäher schwedischen Fabrikats, dient sie mittlerweile als Entlauber, Drechsler, Traktor, Mähdrescher, Bagger, Betonmischer, Snowmobil und Zweitwagen, je nachdem welches handgeschmiedete Ersatzteil Ukki anschraubt. Reich mit Blumengedecken geschmückt, ruht die kone im scheuen Morgenlicht. Zwei Rentiere in Ledergeschirr, gleich Pferden vor eine Kutsche gespannt, nibbeln unter dem sanften Klang ihrer Geweihglöckchen im Gras.
    » Ho! Ho! Ho! «, erwidert der Alte meinen erstaunten Blick. Erst jetzt erkenne ich die riesige Weihnachtsmannmütze auf seinem Kopf, deren weiße Wollbommel bis zu den Knien reicht.
    Als wir das Mökki betreten, sitzt Mummi mit lila Lockenwicklern im Schaukelstuhl und strickt Fäustlinge. Sie trägt einen orangefarbenen Trainingsanzug. Der Stoff spannt an Brust und Hüften. Um ihren Hals eine metallene Stoppuhr.
    » Huomenta «, flüstere ich in den von Kerzen nur schwach erleuchteten Raum, ohne eine Erwiderung auf meinen Morgengruß zu erhalten. In Streifenhemd und Boxershorts stehe ich vor meinen Schwiegereltern. Mummi führt mich zum Esstisch. Auf einem Pappteller dampfen zwei riesige Fleischwürste. Zwanzig Zentimeter lang und fünf Zentimeter dick, also HK:n sininen (Blaue Helsinkier). Eine zähe, unzureichend gesalzene Getreidepampe,
vermengt mit unaussprechlichen Fleischabfällen, eingefasst in eine blassbraune Pelle, so künstlich und steif, dass sie in der Regel unverdaut wieder ausgeschieden wird.
    Der Finnen Leibgericht.
    » Syö, poika «, sagt Mummi. Iss mein Junge.
    Mich schaudert. Ich friere. Ich will nicht. » Miksi , Mummi?« Warum?, frage ich.
    Da tritt Raimo wie ein Geist aus dem Dunkeln hervor, ebenfalls im orangefarbenen Trainingsanzug. Er legt seine Hand auf meine Schulter und drückt mich hinunter auf den Holzschemel: »Ei miksi. Syö!«
    Das Wurstwasser der Blauen Helsinkier spritzt mir ins rechte Auge. Ein brennender Schmerz. Ich frage nach Senf, sinappi . Alle lachen.
    Das ist sie, die Nacht der Prüfung.
    Ukki schaltet den Fernseher ein und legt eine Videokassette in den Rekorder. In einer Endlosschleife schert Mika Häkkinen auf der langen Geraden von Spa spektakulär nach innen und zieht an Schumachers Ferrari vorbei. Raimo tanzt um meinen Schemel herum, eine Finnland-Fahne in jeder Hand: » Hyvä Suomi! Hyvä Suomi!«, ruft er.
    Mein Körper kann nicht mehr. Halb zerkaute Teilstücke der Sininen verteilen sich über das Mohnblumenmuster der Tischdecke. Mummi drückt auf die Stoppuhr und gibt einen unzufriedenen Grunzlaut von sich. Mit einer weißen Keramikschale kehrt sie vom Kühlschrank zurück, darin ein übel riechender, dunkelbrauner Kaltbrei, als ob sie das Plumpsklo geleert und ein wenig
Milch und Zucker beigegeben hätte. Es ist mämmi . Die Speise wurde vor Hunderten von Jahren in Finnland erfunden. Sie hat die Grenzen des Landes nie verlassen.
    Eine besonders große Portion.
    Ich will aufstehen, protestieren, spüre jedoch Raimos starken Arm erneut auf meiner Schulter.
    Mummi bindet mir einen Marimekko-Latz um. » Maistuuko, Rami? Maistuuko? «, fragt sie nach jedem Löffel. Schmeckt es, Rami, schmeckt es?
    Zähe Rinnsale dunkelbrauner Flüssigkeit triefen aus meinen Mundwinkeln. Ich kann mich nicht erinnern, was »Bitte« heißt und ob dieses Wort auf Finnisch überhaupt existiert.
    Ukki füllt ein Wodkaglas. » Hyvää kurkulle «, sagt er. Gut für den Hals. Gerade, als ich mich bedanken will, träufelt Raimo einige Tropfen salmiakki -Konzentrat hinzu. Tief in mir vereinigen sich Wurst, mämmi und Lakritzwodka zu einem ätzenden Brei. Es ist wie Sodbrennen, nur tausendmal stärker.
     
    Als ich die Augen wieder öffne, liegt eine Karte des Mökki-Waldes vor mir. » Sormus «, zeigt Mummi auf ein rotes Markierungskreuz am rechten oberen Rand.
    Was?
    » Sormus «, wiederholt sie. » Sormus, ymmärrätkö, Rami?« Nein, ich verstehe nicht. Ich verstehe überhaupt nichts mehr.
    » SORMUS , SORMUS , SORMUS «, brüllt Mummi und gibt mir eine Kopfnuss. Es

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