Finnen von Sinnen - Finnen von Sinnen
liegen dürfte, denn Viktor neigt im Smalltalk zu einer recht offensiven, stets wahrheitsorientierten und in der Konsequenz oft schmerzhaften Thesenentwicklung. Mit anderen Worten: Smalltalken, das kann Dr. Dr. Minderer nicht, und zwar nur deshalb, wie er betont, weil er es nicht können will.
In seinem ersten Jahr als Heidelberger Assistenzarzt pflegte er in einem weißen T-Shirt in die Psychiatrie zu radeln, auf das er in dicken schwarzen Blocklettern THERAPIE OHNE EMPATHIE hatte drucken lassen. Es war an einem dieser Heidelberger Morgen, als mir meine Schwester eröffnete, sie sehne sich nach einer Beziehung, in der sie mit ihrem Partner über Zahnpasta diskutieren könne.
Aber das ist lange her. In Anwesenheit von Robert, dem Gatten meiner Schwester, zeigt sich Viktors Neigung
zu tatsachenbasierten Taktlosigkeiten immer besonders deutlich, denn obwohl jeder der Beteiligten so tut, als sei alles total entspannt, stimmt das natürlich nicht.
So kam es, dass Viktor beim Grillen etwas zu laut, wie es seine Art ist, im Beisein meiner Kernfamilie die Ansicht zum Besten gab, ab dem sechzigsten Lebensjahr übernehme der Stuhlgang in der partnerschaftlichen Dynamik die Stelle des Sexes. Er könne das nicht nur bei seinen eigenen Eltern, sondern vor allem auch bei seinen Patienten beobachten. Permanent werde über Verdauungsbeschwerden, Durchfälle, Abgänge und Konsistenzen nachgedacht und sogar diskutiert, es sei wirklich eines der wenigen Themen, über das sich ältere Ehepaare noch angeregt zu unterhalten verstünden, es trete gleichsam ins »Zentrum des psychischen Haushaltes«.
Mein Vater nickte wohlwollend und gab Viktor ebenso wie mein Onkel Elmar zur absehbaren Empörung der anwesenden Gattinnen im Prinzip recht, worauf Viktor, da er nun wirklich alle beisammenhatte, das Gespräch auf die These führte, er wette, mindestens 70% der anwesenden Elternpaare hätten einander einst wegen einer ungewollten Schwangerschaft geheiratet, und so gesehen sei es doch erstaunlich, wie viele es trotzdem bis heute miteinander ausgehalten hätten, ja bisweilen sogar echt vergnügt miteinander wirkten.
Mal sehen: Meine Eltern, Pias Eltern, Gertrud und Thomas, die Paten meiner Frau, sämtliche angereisten Onkel und Tanten, Elmar und Vera, ja selbst meine
Schwester und Robert - Viktors 70% schienen fast zu vorsichtig geschätzt. Die stillen Kalkulationen meiner Frau mussten zu einem ähnlichen Ergebnis geführt haben, denn nun erklärte sie der Runde, der genannte Sachverhalt werde durch die Doppelfunktion des finnischen Verbes naida besonders treffend eingefangen.
»Ach ja, wie denn?«, wollte Viktor wissen.
»Na ja, nai minua« , erklärte meine Frau und sah dabei etwas unsicher zu mir herüber, »das bedeutet auf Finnisch: ›Büms mich!‹ Nai minut aber: ›Heirate mich!‹. Zwischen das Bümsen und das Heiraten liegt in die Finnischem also gerade mal ein Buchstabe, und da kannst du schon mal was falsch machen, wenn du nicht aufpasst.«
Es trat eine kurze, betretene Stille ein, die Viktor nutzte, um meine Frau zu fragen, weshalb sie eigentlich noch kein einziges Glas Erdbeerbowle getrunken habe, die sei doch so fein, worauf eine noch längere Stille eintrat, die, wie ich das bestimmte Gefühl hatte, sogar meiner finnischen Frau ein wenig peinlich war.
»Morgen erfährt es eh jeder.«
»Ja, erfährt es.«
Da liegen wir also in der aitta , wenige Stunden vor unserer Hochzeit, meine Hand an ihrem roten Frotteebauch, und säuseln uns zum Einschlafen wie jeden Abend jene wenigen zärtlichen Silben zu, die jeder Mensch gerne hört, bevor es dunkel wird.
Auf Deutsch, versteht sich.
YÖLLISIÄ KUVIA - BILDER DER NACHT
DIE PRÜFUNG
E in hartes Klopfen, wie vom Schnabel eines Spechts. Ukki an der Luke. Sein Weckruf.
Jedes Mal, wenn mein Frühflug geht, fährt er mich schweigend durch zähe Morgennebel zur Haltestelle am Autobahnzubringer, immer auf der Hut vor kreuzenden Elchen, und erst auf Berlins Karl-Marx-Allee erwache ich erstmals wirklich und kann mir zwischen Stalins Zuckerbäckerbauten kaum noch begreiflich machen, nur wenige Stunden zuvor in einer Waldhütte hinter dem Rücken Gottes geträumt zu haben. Aber heute geht kein Flieger. Im Gegenteil. Ukki weiß das.
» Tule Rami , tule hiljaa «, flüstert er und bedeutet mir, seine Tochter schlafen zu lassen.
Als wir aus der aitta ans Licht treten, lässt er den schweren Eisenschlüssel in eine der unzähligen Seitentaschen seines ölverschmierten Blaumanns
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