Finnen von Sinnen - Finnen von Sinnen
schmerzt.
» Sormus, the rings«, flüstert mir Raimo von der anderen
Seite ins Ohr. »Understand, Rami, no rings, no wedding!«
No rings, no wedding. Ich nicke. Schon zerrt er mich hinaus auf die Veranda, wo ich Ukkis Gummistiefel anziehen muss. Vom Boot aus höre ich das helle Doppelpiepsen eines NOKIA-Handys. Das Wurstwasser hat meinen Blick getrübt. Ich kann kaum sehen.
»Good luck«, sagt Ukki, als er den Kahn vom Felsen am anderen Ende der Furt abstößt.
Der Wald erwacht und mit ihm die Mücken. Ich zittere am ganzen Leib, stolpere den Felsen hinauf, durch Heidelbeerfelder und Farne bis zur ersten Anhöhe. Von Weitem der Ruf eines Jagdhorns, bald Männerstimmen und Hundegebell.
» Snabbt, Joel , där springer han «, rufen sie. Und: » Jävla sackeman! «
Ich renne, so schnell es die Stiefel zulassen, doch die keifende Sundberg-Meute kommt immer näher. Angst, überall Angst. Mehr Tier als Mensch, hechte ich über eine Brombeerhecke und stürze mehrere Meter hinab in ein von Laub bedecktes Loch, halb Höhle, halb Grube. Das dunkle Loch scheint mich förmlich aufzusaugen. Tiefer und tiefer versinke ich im finnischen Sumpf. Da erscheint Ukki am Rand der Grube, hält mir ein Ruder zur Rettung hin. Ich schreie, greife, schreie … spüre eine Holzplatte direkt über mir, fühle mich wie in einem Sarg.
Kalter Schweiß auf den Lippen. Kein Klopfen. Kein Ukki. Nur die Stille der aitta und das ruhige, regelmäßige Atmen meiner finnischen Frau. Ihr Antlitz leuchtet im blauen Schein der Handydioden.
BULLERBÜ, SPÄTER
E s ist 4:32 Uhr. Ich habe eine Kurzmitteilung erhalten.
Seltsam, um diese Zeit. Hoffentlich haben meine Eltern nicht die Sauna abgefackelt.
Mal sehen: Herzlichen Glückwunsch und toi toi toi! Miri.
Miriam, ausgerechnet. Vermutlich bekifft aus irgendeiner Prenzelberger Wohnzimmerkneipe. Hätte sie ja fast nicht erkannt, als wir uns vor Wochen im Volkspark zufällig trafen. Freudlos und dürr, geradezu ausgemergelt sah sie aus. Der hennafarbene Kurzhaarschnitt tat ein Übriges. Schon über vier Jahre sei sie in der Stadt, arbeite gerade als Pressereferentin einer Bürgerstiftung, übergangsweise, erklärte sie, um mir schließlich den blauäugigen Begleiter vorzustellen, der immer wieder fordernd an ihr emporsprang und ihr dabei erregt das Gesicht abschleckte - ein stattlicher Huskyrüde namens Bosse.
Erst als ich kurz von meiner nahenden Übersiedlung und finnischen Heirat erzähle, kehrt so etwas wie Leben in ihr Gesicht zurück, ja, für einen Moment klatscht sie sogar erregt in die Hände: »Echt? Mensch! Finnland! Du!
Super, du, da will ich ja auch hin! Raus aus dem ganzen Scheiß hier! Als Internetdesignerin auf einem Bauernhof leben, mit Bosse, du, das wär’s! Ich wollte ja immer schon in Skandinavien leben, weißt du noch? Schon als Kind!«
Schweigend stehe ich vor ihr, bringe nicht mehr als ein asthmatisch röchelndes »Juu, juu« heraus. Was hätte ich auch erwidern sollen? Dass ich nicht sicher bin, ob Finnland zu Skandinavien gehört? Dass ich viele Jahre gebraucht habe, mit der Gleichgültigkeit der Fichten leben zu lernen? Dass es Bäume gibt gleich neben den Äckern, wo der Wind am schärfsten weht, die an kalten Wintertagen mit einem spitzen Knall von innen bersten? Davon, dass jeder einzelne meiner finnischen Hüttenmorgen mit dem Anblick getrockneter Insekteneingeweide beginnt, die als schwarzrote Punkte den Spanplattenrost des oberen Stockbetts zieren?
Miriam, Miriam, wenn du wüsstest, wovon ich nachts träume!
Ich erinnerte mich an Alexei, einst ein deutscher Student, der sich seinen Abschluss in Volkswirtschaftslehre mit einer herbstlichen Wanderreise durch Finnland belohnte und ohne tieferen Plan, ganz einfach weil er eine Herberge für die Nacht benötigte, bei den orthodoxen Mönchen von Valamo in den Wäldern Savos nahe der russischen Grenze um ein Bett für die Nacht gebeten hatte. In jener Nacht muss Alexei ein Erweckungserlebnis widerfahren sein, eine Erleuchtung, denn er entschied, bei den Mönchen zu bleiben. Erst einige Tage, dann Wochen, schließlich den gesamten Winter, um bereits
im folgenden Frühling als erster Deutscher in der zweitausendjährigen Klostergeschichte um Aufnahme in die finnisch-orthodoxe Bruderschaft von Valamo zu bitten.
Meine Frau hatte mich gleich in unserem ersten Sommer nach Valamo geführt, der einzigen Touristenattraktion im Umkreis Hunderter Kilometer. Seitdem besuchten wir jedes Jahr wieder mit deutschen Freunden und
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