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Finnischer Tango - Roman

Finnischer Tango - Roman

Titel: Finnischer Tango - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Taavi Soininvaara
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Niedergang der Muttersprache symbolisierte sehr gut den Zustand des ganzen Landes. Überall herrschte Gleichgültigkeit. Die Kinder wurden nicht erzogen, um die Schwächeren kümmerte man sich nicht, die Alten wurden in Heime gesteckt, die Familien blieben nicht zusammen, das Gesundheitssystem wurde heruntergefahren … Finnland war so wohlhabend wie nie zuvor, aber es gab zweihunderttausend Arbeitslose und zehntausend Obdachlose, und die in die ambulante Behandlung abgeschobenen psychisch kranken Patienten irrten auf den Straßen herum.
    Er wollte sich eigentlich die Sendung anhören, aber daraus wurde nichts, er war jetzt einfach zu wütend. In der heutigen Konkurrenzgesellschaft wurden auch die jungen Leute ausgegrenzt, noch bevor ihr Leben überhaupt richtig begonnen hatte. Mehr als die Marktwirtschaft hasste er nur die Kriminellen, die Schmarotzer, die an den Grundpfeilern des Wohlfahrtsstaates nagten.
    Veikko Saari strich über den Rahmen des Schwarzweißfotos aus seiner Jugendzeit, auf dem er in die Kamera lächelte, warf den Kugelschreiber auf den Schreibtisch und ging ans Fenster seiner Suite. Die Betrachtung der Blechlawine, die sich ohne Unterbrechung die Michailowskaja uliza entlangwälzte,hatte die gleiche Wirkung, als würde man ins Feuer starren, es nahm den Blick gefangen und machte den Kopf frei.
    Noch nie hatte er so etwas Luxuriöses erlebt. Das Grandhotel Europe im Herzen Sankt Petersburgs war das älteste und teuerste Hotel der Stadt. Die Suite kostete pro Nacht sechshundert Dollar und war fast genauso groß wie seine Wohnung in der Sepänkatu. Aber in den letzten Tagen seines Lebens hatte doch wohl auch er das Recht, sich zu verwöhnen. Und außerdem hatte er die Suite mit zwei Zimmern nur deshalb gewählt, weil er ein Arbeitszimmer brauchte: In einem der Räume hatte er ein Büro mit Computer, Farbdrucker und Scanner eingerichtet. Der allerwichtigste Grund dafür, dass er im Grandhotel Europe wohnte, war allerdings der finnische Marschall Mannerheim. Der war bei seinen Besuchen in Petersburg meistens genau hier abgestiegen, immer im selben Zimmer in der ersten Etage, in dem Flügel am damaligen Michail-Platz. In diesem Zimmer.
    Die Preise des Grandhotel Europe hätte sich Saari freilich nicht leisten können, den ganzen Spaß bezahlte Adil al-Moteiri. Eine gedämpfte Welle des Selbstmitleids erfasste den pensionierten Polizisten und Junggesellen: Nicht einmal in vierzig Jahren war es ihm gelungen, Ersparnisse anzulegen, obwohl er sein Geld nur fürs Essen, für die Wohnung und andere unumgängliche Dinge ausgegeben hatte. Und für Drogen. Nur gut, dass er kaum Eigentum besaß: Schon bald würde er es nicht mehr brauchen, und er kannte niemanden, dem er es hätte hinterlassen können.
    Deshalb war er ja hier, er wollte die Enden seines Lebensfadens miteinander verknüpfen, bevor die Erkrankung seinen Verstand trüben würde. Er glaubte schon Symptome der im Sommer festgestellten Alzheimer-Krankheit zu erkennen: Neues zu lernen fiel ihm schwerer als früher, under dachte ständig an seine Kindheit und Jugend, an alte Dinge und vergangene Zeiten.
    Das Klingeln des Telefons unterbrach seine Gedankengänge.
    »Wie geht es dir, mein Freund?« Adil al-Moteiris gepflegtes Englisch war im Rauschen der Verbindung nur schwach zu hören.
    Es dauerte einen Augenblick, bevor Saari antwortete. »Mein Ende erwarte ich nicht gerade voller Freude, aber meinen Auftrag schon.«
    »Du bist also bereit?«
    »Natürlich.« Saari lebte sofort auf.
    »Du darfst dich Wassili Arbamow heute vorstellen und kannst den Erpresserbrief unverändert abschicken.«
    Saaris Herz schlug schneller, er wollte noch weitere Anweisungen hören, aber Adil erwiderte, er habe es bedauerlicherweise eilig, und versprach, schon bald darauf zurückzukommen. Sie verabschiedeten sich voneinander.
    Jetzt ging es los, seine letzte Aufgabe begann. Durch den Adrenalinstoß erinnerte sich Saari daran, wie er als junger Mann ein grenzenloses Selbstbewusstsein empfunden hatte. Jetzt war er gesundheitlich nur noch ein Wrack, aber er beklagte sich nicht, ein Jammerlappen würde Veikko Saari nie werden. Ein Mann musste entweder etwas gegen seine Probleme unternehmen oder sein Schicksal still ertragen.
    Er betrachtete das Hotelzimmer: ein orientalischer Teppich, schwere Gardinen, Kissenbezüge mit Rüschen, das Edelholzparkett … Ein solcher Glanz gehörte nicht in sein Leben. Wie mochte es wohl sein, wenn der Luxus alltäglich wurde, verdarb das den

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