Finnischer Tango - Roman
Menschen? Adil hatte es jedenfalls nicht verdorben. Dieser Mann wurde von dem brennenden Wunsch getrieben, jenen Menschen zu helfen, die Unrecht erlitten hatten, und außerdem verfügte er über einen messerscharfen Verstand und eine verblüffende Menge von Informationenzu Dingen, die auch ein ehemaliger Polizist nicht kannte.
Kennengelernt hatte er Adil al-Moteiri vor ein paar Jahren, als der in der Sepänkatu bei dieser Frau Hallamaa gewohnt hatte. Saari schämte sich und fand es beängstigend, dass er um ein Haar die Chance seines Lebens vertan hätte, weil er anfangs die Versuche des jungen Irakers, mit ihm Bekanntschaft zu schließen, wegen seiner Vorurteile abgewiesen hatte. Es war allein das Verdienst Adils und seiner beharrlichen Freundlichkeit, dass sie sich schließlich doch angefreundet hatten.
Als Adil vor einem Jahr nach Finnland zurückgekehrt war, hatte er ihm Beweise in Hülle und Fülle für Arbamows Drogenverbrechen und einen Plan zur Vernichtung des Russen vorgelegt. Saari dankte seinem Wohltäter Adil und dem Schicksal, das sie zusammengeführt hatte und ihm Gelegenheit gab, dafür zu sorgen, dass der letzte Auftritt seines Lebens wichtig und bedeutend sein würde.
Adils Beispiel verlieh ihm Kraft: Der Mann hatte seine Grundsätze und seinen Wunsch, Gutes zu tun, nicht aufgegeben, obwohl er im Irak unschuldig im Gefangenenlager schmachten musste. Saari setzte sich an seinem Arbeitsplatz in den Bürosessel und schlug sein dickes in Leder gebundenes Buch auf. Er wusste immer noch nicht, ob er in den Erlebnissen seines älteren Bruders aus der Zeit der Kriegsgefangenschaft herumkramte, weil er von Adils Leiden in Camp Bucca gehört hatte oder weil die heraufziehende Krankheit seine Gedanken in die Vergangenheit lenkte. Vielleicht gehörte es zur Vorbereitung seines eigenen Abgangs, dass er sich mit seiner Herkunft beschäftigte. Eines wusste er aber genau: Nachdem er einmal begonnen hatte, in der Geschichte zu kramen, konnte er nicht mehr aufhören.
Saari blätterte in seinem Buch. Auch ohne hineinzuschauen,erinnerte er sich, dass der Jahrgang seines Bruders Paavo Anfang 1944 eingezogen und in der entscheidenden Phase des Fortsetzungskrieges als Ersatz direkt in die Kämpfe an der vordersten Front geschickt worden war.
»Die zweite Gruppe des ersten Zuges in der dritten Kompanie der Abteilung Marttina brach am 29. März 1944 in einem nordkarelischen Dorf namens Jämäs in der Nähe von Kuhmo zu einem Aufklärungseinsatz auf. In Suopasalmi, tief in dem Teil Kareliens, der hinter der Grenze lag, nahm die Grenztruppeneinheit Tregubenko Paavos Spähtrupp gefangen. Die Verhöre, die noch am selben Tag begannen, leitete der Partisanenhauptmann Laamanen von der Roten Armee«, las Saari in seinem Notizbuch.
»Die finnischen Kriegsgefangenen wurden in ein Lager am Perkjärvi gebracht und anschließend nach Wolosowa in der Nähe von Leningrad, von dort ging die Reise einen Monat später weiter in das Kriegsgefangenenlager Usman südlich von Moskau und schließlich in das Sammellager Tscherepowez nordöstlich von Moskau. Dann kam der Frieden, und Paavos Kriegsgefangenschaft wurde abgekürzt. Am 22. 11. 1944 schickte man ihn mit den ersten Kriegsgefangenen nach Finnland zurück, wo er drei Wochen lang im Quarantänelager von Hanko isoliert wurde. Paavos Tuberkulose wurde am 4. 12. 1944 festgestellt.«
Heute ist der 4. Dezember, dachte Saari und empfand eine merkwürdige Schicksalsgemeinschaft mit seinem Bruder. Es war ein gutes Gefühl, zu wissen, dass er wenigstens nicht so lange dahinsiechen würde wie Paavo seinerzeit.
Saari packte seine Sachen in eine alte Kunstledertasche, alle Unterlagen waren schon seit Tagen fertig. Er zog einen dunkelblauen Baumwollmantel an und Lederschuhe, die glänzten, weil sie ganz neu waren, er hatte sie extra für diese Reise gekauft. Es wunderte ihn immer noch, dass er Geld verschwendet hatte, um beim Sterben elegant auszusehen.
Er fühlte sich stark wie lange nicht, als er über den roten Teppich lief, der den Marmorfußboden des GrandhotelEurope bedeckte. Die anderen Hotelgäste schienen hierher zu gehören, man sah einem Menschen den Wohlstand an, er zeigte sich als gleichgültige Überheblichkeit. Ein langhaariger Mann, vermutlich ein Rockstar, schwankte durch das Foyer, die Zigarette in seinem Mund zitterte, als er mit der Selbstsicherheit des Betrunkenen den Hotelpagen anbrüllte, der lächelte und höflich nickte, obwohl er hinter dem Rücken die Fäuste
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