Finnisches Blut
bis sich die Tür hinter Vairiala schloß.
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Der Hardrock vom vierten Album Led Zeppelins dröhnte mit solcher Lautstärke, daß Ratamo seinen eigenen Gesang nicht hörte. Er sang gern, aber schlecht. Der Couchtisch quoll über von Bierflaschen, CDs und leeren Fastfood-Verpackungen. Es war Ratamos erster freier Abend seit zwei Wochen, und er hatte schon fast vergessen, wie wunderbar es war, wenn man tun und lassen konnte, was man wollte.
Kaisa und Nelli waren noch nicht zu Hause, obwohl es schon fast neun war. Wahrscheinlich machten sie noch einen Besuch bei Kaisas Mutter Marketta Julin. Ratamo mochte seine Schwiegermutter, aber das Verhältnis seiner Frau zu ihrer Mutter verstand er nicht. Enge und herzliche Beziehungen zu den eigenen Eltern waren eine gute Sache, doch wenn sich eine Frau über Dreißig fast täglich mit ihrer Mutter traf, dann fand er das übertrieben. Er wußte nicht, wer von beiden in der Beziehung die aktivere Seite war, und danach fragen wollte er auch nicht. Damit hätte er nur einen Streit vom Zaun gebrochen.
Er schaltete die Stereoanlage aus und trank den Rest des Drinks, der für diesen Abend sein letzter sein sollte. Mit einem Glas vom teuersten Calvados, einem zwanzig Jahre alten Roger Groult, hatte er sich belohnen wollen, war dann jedoch schwach geworden und hatte schon ein Viertel der Flasche gesüffelt. Dem herben Geschmack des Apfelschnapses konnte man nur schwer widerstehen, und das angenehme Gefühl, allmächtig |57| zu sein, wenn man allmählich betrunken wurde, begrub auf wirksame Weise alle Sorgen unter sich. Er wußte, wenn er noch ein paar Schnäpse trank, würde er sich nicht mehr zügeln können und eine Runde durch die Bars der Stadt machen. Also beschloß er, sich zu beherrschen, und trat vor den Spiegel. Er trug Jeans und ein T-Shirt und einen großen, aus Palmenzweigen und Bambus geflochtenen kegelförmigen Hut – einen
Non
, den die Vietnamesen auf ihren Reisfeldern benutzten.
Ratamo konzentrierte sich und machte unsicher einige verlangsamte Schattenboxbewegungen. Hoang hatte ihm
Thai cuc quyen
beigebracht. Diese Disziplin galt in Vietnam als Kunst und sollte die Kontrolle der Muskulatur und das Konzentrationsvermögen verbessern.
Die Tür knallte.
»Arto! Bist du zu Hause?« rief Kaisa.
»Im Wohnzimmer.«
»Die Sache von heute früh hat mir keine Ruhe gelassen. Ich habe nachgedacht und bin zu dem Schluß gekommen, daß du entweder den Verstand verloren oder die Wahrheit gesagt hast. Man hat dir angesehen, daß es keine deiner üblichen Geschichten gewesen ist.«
Ratamo versuchte, so gut es ging, sich zusammenzureißen, als Kaisa mit Nelli auf den Fersen im Wohnzimmer auftauchte.
»Es ist die Wahrheit. Auch wenn das normale Ebola-Virus aufgespürt wird, ist das in der Welt der Wissenschaft eine große Neuigkeit, wir aber haben ein neues Ebola-Virus gefunden, und jetzt habe ich dazu noch ein Gegenmittel entdeckt. Das ist das bedeutendste Ergebnis der Ebola-Forschung aller Zeiten«, sagte Ratamo und schaute seine Frau mit ernstem Gesicht an. Seine Lippen schienen geschwollen. Er hatte sich drei Prieme |58| unter die Oberlippe und zwei unter die Unterlippe geschoben. Im Anfangsstadium der Betrunkenheit war das Verlangen nach Kautabak am größten.
»Du bist ja blau. Warum fängst du an einem Mittwochabend an zu saufen? Und schau dir diese Unordnung an. Kaum bin ich ein paar Stunden weg, schon verwandelst du das Wohnzimmer in einen Schweinestall.«
»Ich habe überhaupt nicht angefangen zu saufen. Ein Mann hat doch wohl das Recht, sich nach einer solchen Leistung zu belohnen«, erwiderte Ratamo zu seiner Verteidigung. Er bemerkte, daß er den
Non
immer noch auf dem Kopf hatte. Mit beiden Händen sammelte er den Abfall vom Couchtisch ein. Nelli betrachtete ihren Vater mit ernstem Gesicht, und Ratamo schämte sich.
»Du weißt ja wohl noch, daß wir morgen nach Kvarnö fahren wollten. Ich habe gerade mit Mutter vereinbart, daß sie Nelli morgen früh zu sich holt. Die Gäste sind bereits eingeladen. Auch die Cederlunds kommen. Mikael ist Direktor irgendeiner großen Investmentbank, den kann ich nicht einfach anrufen und absagen. Dann würde man uns nie mehr irgendwohin einladen.« Kaisa schien jeden Moment in Tränen auszubrechen.
Noch bevor Ratamo auch nur den Mund öffnen konnte, fuhr Kaisa in ihrem Wortschwall fort: »Du solltest einkaufen gehen und Nellis Sachen packen.«
Vor lauter Streß auf Arbeit hatte Ratamo völlig vergessen, daß sie in ihrem
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