Finnisches Blut
Statt dessen überfiel ihn ein stechendes Schuldgefühl und eine Bedrängnis, die noch stärker war als vorher. Jetzt war er ein Mörder. Es gab kein Zurück mehr. Als er das Schulmädchen überfahren hatte, war das ein Versehen gewesen, doch jetzt hatte er mit Absicht einen Menschen getötet. Er hatte etwas getan, was absolut verboten war. Das war die größte Sünde. Siren mußte sich das Gesicht mit kaltem Wasser abspülen, um sich zu beruhigen.
Er zog die Leiche in eine sitzende Stellung, schlug mit der Faust von allen Seiten auf den Oberkörper ein und ließ sie dann wieder ins Wasser gleiten. Anschließend inszenierte er in der Wohnung sorgfältig Anzeichen für eine handgreifliche Auseinandersetzung und sammelte Haare und Fasern in einen Minigrip-Beutel. Dann suchte er in der Wohnung ohne Erfolg nach Kopien von Ratamos Notizen oder nach anderem Material, das mit Ebola-Helsinki oder dem Gegenmittel zusammenhing. Er achtete darauf, nichts unnötig zu berühren.
Nachdem alles erledigt war, tippte Siren die Notrufnummer ein. Als sich die Zentrale meldete, legte er den Hörer auf den Tisch.
|73| DONNERSTAG
10. August
|75| 13
Trotz des Verkehrslärms, der ins Schlafzimmer drang, hörte man die Vögel zwitschern. Es blieb anscheinend weiter so heiß. Ratamo war zufrieden, daß er ein paar Tage frei hatte, obwohl er sie mit Kaisas Bekannten verbringen mußte. Nachdem sich der monatelange Streß gelegt hatte, wurde ihm klar, daß er mehr denn je die Nase von seiner Arbeit voll hatte. Aus Scheiße macht man eben keine Pralinen.
Schon seit Jahren wollte er die Stelle als Forscher aufgeben. Doch die Annehmlichkeiten, die ein regelmäßiges Einkommen mit sich brachte, und der Mangel an Initiative und Entschlußkraft hatten die Entscheidung schon zu lange aufgeschoben. Warum hatte er es noch nicht gewagt aufzuhören? Was würde ihm fehlen? Seine Kollegen, die gegenseitig ihre Forschungsergebnisse ausspionierten und einander in den Rücken fielen, sooft sie konnten? Oder der rücksichtslose Wettstreit um die Forschungsstipendien? Oder das Netz von Beziehungen, das in einer Art und Weise geknüpft, unterhalten und ausgenutzt wurde, die eher an Schilderungen des höfischen Lebens im Mittelalter erinnerte. Was würde ihm die Laufbahn als Wissenschaftler geben? Dreißig stressige Arbeitsjahre unter Menschen, die anders als er waren, so, wie er nie werden wollte. Und danach angenehme Tage als Rentner und geistig längst abgestorbene Arbeitsmaschine? Er wollte ein neues, interessanteres Leben, frei vom Harnisch der Kleinbürgerlichkeit. Das |76| Problem bestand darin, daß er genau wußte, was er nicht wollte, aber nur vage Vorstellungen davon hatte, was er wollte. Vielleicht würde sich das klären, wenn er Zeit hätte, in Ruhe darüber nachzudenken.
Ratamo schrak zusammen.
»Vati, wach auf! Wach auf, Vati!« schrie Nelli aus vollem Halse und zog mit aller Kraft an der rechten großen Zehe ihres Vaters.
»Na, was ist denn das?« murmelte Ratamo, schnappte sich Nelli unter den Achseln und zog sie zu sich unter die Decke. Jetzt durfte er noch ein paar Minuten im Bett liegenbleiben. Er preßte den Mund auf Nellis nackten Bauch und blies so kräftig, daß es sich anhörte wie eine Trompete. Die Haut des Mädchens duftete gut und vertraut.
»Aua! Nicht, Vati, hör auf! Aua aua!« rief Nelli ganz ausgelassen. Sie strampelte so wild, daß die Decke herumgewirbelt wurde und ihr Nachthemd verrutschte.
Aus irgendeinem Grund fiel Ratamo ein, daß es seine Mutter in den letzten Monaten vor ihrem Tod mit ihm genauso gemacht hatte. Damals, als alles noch in Ordnung war. Ratamo hatte sich bei der Geburt Nellis geschworen, seinem Kind Vater und Mutter, ein glückliches Zuhause und eine glückliche Kindheit zu garantieren. Also alles das, was ihm versagt geblieben war.
»Fangt ihr schon wieder damit an«, schimpfte Kaisa auf ihrer Seite des Doppelbettes und drehte ihnen den Rücken zu.
»Pst. Mutti schläft noch. Jetzt bleibst du eine Weile in Vatis Arm, hältst still, und wir unterhalten uns. Ja?« flüsterte Ratamo seiner Tochter ins Ohr.
»Erzähl eine Geschichte«, verlangte Nelli, die morgens besonders lebhaft war. Die strohblonden langen Haare waren ihr ins Gesicht gerutscht.
|77| »Hm. Kennst du den Unterschied zwischen einem Elefanten und einem Keks?«
»Kekse schmecken gut. Zumindest Schokoladenkekse. Und Elefanten werden nicht gegessen. Kekse sind außerdem kleiner«, zählte Nelli mit kindlichem Eifer auf und wurde
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