Finnisches Quartett
einkalkulierte, aber so weit war noch niemand gegangen: Morgen würden iranische Terroristen einen Anschlag auf das Kernkraftwerk Calvert Cliffs, vierzig Meilen von Washington, vom Herz der Nation, entfernt, ausführen, weil ein Terroranschlag auf die USA einen militärischen Racheakt gegen den Iran rechtfertigen würde.
John Dexter spürte, wie sich eine unsichtbare Schlinge um seinen Hals allmählich zuzog: Er mußte schnell Ergebnisse vorweisen, oder die Schlinge würde sichtbar werden. Der erste Tag des nächsten Angriffskrieges der USA rückte unausweichlich immer näher. Und der psychopathische Killer auch.
Jaap van der Waal zog die Gardinen in der Bibliothek seines Schlosses im Zentrum von Den Haag auf und schaute über den künstlichen Teich Hofvijver hinüber auf achthundert Jahre holländischer Geschichte: den prächtigen Rittersaal aus dem dreizehnten Jahrhundert, das Alte Schloß, das moderne Parlamentsgebäude … Nachts verdarben die Möwen den Anblick nicht, aber Lady jaulte und störte die friedliche Stimmung.
Van der Waal hatte sein klassisches Schloß, das 1658 an der Straße Lange Vijverberg erbaut worden war, vor Jahren gekauft, als es weltweit zu besonders heftigen Demonstrationen gegen das Vorgehen von Dutch Oil in Nigeria gekommen war. Das Gebäude ließ sich leicht überwachen, weil es auf einer Seite an dem künstlichen Teich lag und ansonsten von einem hohen Metallzaun umgeben wurde. Er schlurfte zum Barschrank und goß sich Genever in ein Kristallglas.
Er schämte sich, zugeben zu müssen, daß er nach dem Tod von Mary Cash die Rache des Zornesengels sogar nochmehr fürchtete als die gänzliche Aufdeckung des Konsortiums. Als die Ermittler des AIVD am Abend bei ihm gewesen waren, um ihn wegen Pieters Tod zu verhören, war der Ton der Fragen anders als früher gewesen, aggressiver. Das überraschte ihn nicht: Die Polizei wußte, daß seine Sicherheitsleute sowohl Jorge Oliveira als auch Mary Cash getötet hatten. Verdammt, er würde jetzt doch nicht etwa ins Gefängnis müssen?
Ein Tag war vergangen seit seiner Drohung, John Dexter zu denunzieren, wenn man ihm nicht half, dem Zangengriff der Polizei zu entkommen. Wäre es klug, noch zu warten? Und wie lange? Er wollte niemanden verraten, welchen Nutzen brächte das. Dieses Spiel, dessen Regeln der Anschlag der Ökoterroristen durcheinandergebracht hatte, als Sieger frei und lebendig überstehen, das war alles, was er wollte. Wartete er umsonst? Niemand hatte Kontakt zu ihm aufgenommen, und die Amerikaner übermittelten ihm keine Informationen mehr, weder über die Bewegungen des Zornesengels noch über irgend etwas anderes. Würde man ihm helfen, oder würde man ihn opfern?
Van der Waal versuchte sich zu beruhigen. In seinem Schloß war er in Sicherheit, vor allem jetzt, da der AIVD draußen wachte und er selbst nach dem Tod von Pieter fast zwanzig neue Sicherheitsleute eingestellt hatte. Er würde das Haus nicht verlassen, bevor alles vorbei war. Der Engel des Zorns konnte auf keinen Fall in das Gebäude gelangen.
Jedes Spiel endete entweder mit dem Sieg, der Niederlage oder einem Remis. Aber in einem Spiel, in dem es keine Regeln gab, ließ sich das Endergebnis unmöglich voraussagen. Und dies war genau so ein Spiel. Van der Waal fürchtete, daß es so ausgehen würde wie in der Dogger Bay. Er schloß die Augen und sah vor sich, was vor mehr als zweihundert Jahren geschehen war:
Konteradmiral Johan Arnold Zoutman kommandiert imJahre 1781 den Geleitschutz einer Gruppe holländischer Handelsschiffe auf dem Weg ins Baltikum. In der Nähe der Dogger Bay kreuzen sie den Weg von englischen Kriegsschiffen unter Vizeadmiral Hyde Parker. Es kommt zu einem Gefecht.
Der Kapitän des holländischen Schiffes Batavier, Wolter Jan Gerrit, Baron von Bentinck, wird gleich zu Beginn der Schlacht tödlich verwundet, beide Seiten verlieren mehrere Kriegsschiffe, aber alle holländischen Handelsschiffe gelangen sicher an ihr Ziel. Der Kampf endet mit einem Remis, und beide Länder erklären sich zum Sieger. In Holland wird die Nachricht vom Ausgang der Schlacht mit Freude aufgenommen, und der im Kampf gefallene Baron Bentinck wird mit feierlichem Zeremoniell zu Grabe getragen und zum Nationalhelden erhoben.
Van der Waal ging zur Wand, beugte sich über eine Vitrine aus Edelholz und betrachtete die Medaillen, die zu Ehren des Sieges von Dogger Bay vor über zweihundert Jahren angefertigt worden waren. Er wollte kein toter Held werden wie Baron
Weitere Kostenlose Bücher