Finnisches Quartett
und Scott möglicherweise in irgendeinem der Restaurants des WTC Mittag aßen und den ganzen Tag in dem Gebäudekomplex verbrachten.
Verzweiflung packte sie, die Sorge um das Schicksal von Lasse und Jorge war quälend. Doch am meisten hatte Ulrike Angst davor, daß sie selbst gefaßt wurde und ihre Arbeit nicht zu Ende führen konnte. Der Gedanke war niederschmetternd. Hatte sie ihre Freunde, ihren Studienplatz, die Möglichkeit einer gesicherten Zukunft und in gewisser Weise auch ihre Eltern umsonst verloren? Nach Ulrikes erstem Prozeß war ihr Vater unter Druck gesetzt worden, so daß er seine Stelle als Pfarrer aufgab und vorzeitig in Rente ging, und ihre Mutter wollte nicht mehr, daß sie zu Besuch nach Hause kam.
Ulrike ärgerte sich über ihre egoistischen Gedanken und rief sich all das Entsetzliche ins Gedächtnis zurück, was sie während ihrer Arbeit als Freiwillige gesehen hatte: die Kinder in Manila, die auf der Müllhalde wohnten und Abfälle aßen, die Jungen in den Slums von São Paulo, die zum Überleben ihre inneren Organe verkauften, und die kleinen Mädchen in den Gassen von Bangkok, die zur Prostitution gezwungen wurden. Wegen dieser Schicksale war sie zurAktivistin geworden. Durch die Polizisten, die in Seattle, Prag, Göteborg und Genf Demonstranten mißhandelt hatten, war sie schließlich endgültig zu der Überzeugung gelangt, daß die reichen westlichen Länder die größten Feinde einer Veränderung waren. Moral, Ethik, Gerechtigkeit und menschliches Leid interessierten sie nur dann, wenn es ihnen wirtschaftlichen Nutzen brachte. Diese Erkenntnis hatte sie dazu gezwungen, den Weg der direkten Aktion zu gehen.
Mit Hilfe von Final Action mußte sie ihr Versprechen einlösen: Sie wollte etwas werden und die Welt verändern. Final Action sollte das System erschüttern, das im Laufe der Geschichte Hunderte Millionen Menschen hatte leiden lassen. Doch Ulrike bereute sofort ihre ehrgeizigen Gedanken, sie durfte nicht zulassen, daß ihre persönlichen Motive die Wahrheit trübten. Final Action war gegründet worden, um der Erde zu helfen und nicht Ulrike Berger.
Kurz vor drei Uhr hatte Ulrike es satt und beschloß, sich etwas näher an das WTC heranzuwagen. Vielleicht konnte sie in die Fenster des Büros von Gloria und Scott schauen, oder vielleicht würden die sie sehen. Sie war gezwungen, das Wagnis einzugehen. Mehr als je zuvor sehnte sie sich nach Lasse an ihrer Seite.
Aufmerksam beobachtete Ulrike ihre Umgebung, ging langsam so nahe wie möglich an den Glaspalast des WTC heran und lehnte sich an das Geländer, das die Wand des Gebäudes umgab. Immer wieder schaute sie auf ihre Uhr und versuchte den Eindruck zu erwecken, als würde sie auf jemanden warten. Auch der blonde Mann, der in aufrechter Haltung ein paar Dutzend Meter vor ihr stand, starrte auf das Gebäude. Als er einen Blick zur Seite warf, sah Ulrike kurz sein sympathisches Kindergesicht. Sie überlegte, warum der Gürtel des Mannes mit hölzernen Griffen geschlossen war, und spürte, wie sich in ihr ein abscheuliches Gefühlregte, aber sosehr sie sich auch anstrengte, sie konnte ihm keinen Namen geben.
Ezrael zog seinen speziellen Gürtel mit den Holzgriffen enger. In der Umgebung des World Trade Centers waren zahllose Menschen unterwegs, denn viele der Bars und Restaurants hatten auch am Sonntag geöffnet. Ein kugelförmiger schwarzer Pudel, der sein Herrchen ausführte, erregte Ezraels Aufmerksamkeit und ließ blitzartig das Bild einer Erscheinung auftauchen, das Opfer, das die Bestie vor Jahrzehnten gefordert hatte. Es hatte viel Kraft gekostet, dem Hund das Brustbein mit einem stumpfen Messer zu durchbohren, und sein Blut hatte süß geschmeckt.
Das Warten auf den Augenblick der Rache beschwor diesmal keinen ständigen Strom von Erscheinungsbildern herauf, aus irgendeinem Grund tauchte vor Ezraels Augen immer wieder das Gesicht der Verräterin Ulrike Berger auf. Er verstand nicht, warum: Was war das Besondere an dieser Frau, wie kam es dazu? Der Geruch des Blutes stieg ihm schon in die Nase. Auch die Bestie roch es, es war Zeit zu handeln …
Exakt um fünfzehn Uhr holte Ezrael, der jugendlich gekleidet war, ein Basecap und eine Sonnenbrille trug, das Handy aus der Tasche, rief die Information im Foyer des WTC an und bekam eine Routineantwort.
»Hör jetzt genau zu«, sagte Ezrael auf englisch und wartete einen Augenblick. »Ich rufe im Namen der Befreiungsarmee von Kerala, des Bundesstaates Kerala und ganz Indiens
Weitere Kostenlose Bücher