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Finnisches Quartett

Finnisches Quartett

Titel: Finnisches Quartett Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Taavi Soininvaara
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unterdrücken, die ließen sich nicht aufhalten und überfluteten ihr Bewußtsein.
    Mary sprang auf und versuchte sich auf ihre Umgebung zu konzentrieren, aber alles, was sie sah, erinnerte an die Verhörzentrale von Castlereagh: das grelle Licht, der Metallstuhl, der blanke Beton … Sie mußte ihre Gedanken unter Kontrolle behalten. Schließlich war sie in Den Haag und saß im Wartezimmer des Verhörraums in der AIVD-Zentrale. Dieses Verhör würde eine oder zwei Stunden dauern, vielleicht auch drei, aber auf keinen Fall sechzig. Hier würde sie niemand foltern, vergewaltigen oder umbringen. Sie wartete nicht auf den Vernehmungsführer der Königlichen Polizei von Ulster, die RUC war längst aufgelöst, und sie befand sich ja nicht einmal in Nordirland, sondern in Holland.
    Henk Timmerman, der Chef einer Einheit der demokratischen Rechtsordnung, ging entspannt durch den langen Flur und blieb schließlich vor der verschlossenen Tür des Warteraums stehen. »Etwa zwei Stunden Wartezeit sollten eigentlich reichen, Frau Cash ist sicher schon in der richtigen Stimmung«, sagte er zu dem mit gleichgültiger Mieneneben der Tür sitzenden Wachposten und rückte seine Fliege gerade.
    Mary erschrak, als sie Timmerman sah. Der zwei Meter große, dünne und bärtige Ermittler erinnerte an den gefürchtetsten Vernehmer der Königlichen Polizei von Ulster. Die Erinnerungen an den Mai 1985 brachen über sie herein: Man hatte sie von zu Hause abgeholt und in die Verhörzentrale von Castlereagh gebracht. Ein paar Stunden vorher war ein Polizist der RUC in Beechmount in West-Belfast bei einem Anschlag der IRA gestorben. Man warf ihr und vier anderen Kindern im Teenageralter aus Familien von Republikanern vor, für die Mörder Wache gestanden zu haben, und drohte ihnen mit langen Gefängnisstrafen. Geschlagen und vergewaltigt, unterschrieb sie ein Geständnis, nachdem man sie sechzig Stunden lang unter Druck gesetzt hatte.
    Mary Cashs Reaktion verblüffte Timmerman. Die Frau sah aus, als hätte man sie schon stundenlang verhört: Der Schweiß lief ihr in Strömen über das blasse Gesicht, und die Augen lagen tief in den Höhlen.
    »Dann wollen wir mal«, sagte Timmerman kurz auf englisch, stellte sich vor und führte Mary Cash in den Verhörraum, der größer als der Warteraum war, aber genauso karg eingerichtet.
    Mary bemühte sich, ganz ruhig und tief zu atmen. Niemand würde sie berühren, egal, was sie auch sagte. Dieses holländische Schwein würde ihr nichts antun, dachte Mary, und das verlieh ihr ein wenig Kraft. Die Männer wagten es nur, rohe Gewalt anzuwenden, wenn sie wußten, daß sie dafür nicht zur Verantwortung gezogen wurden. Der hier würde sich an die Regeln halten, das sah man ihm schon von weitem an.
    Timmerman schaltete die Videokamera und das Mikrofon ein und nannte den Ort, die Zeit, das Thema und dieTeilnehmer des Verhörs. Dann setzte er sich hin, starrte Mary Cash eine Weile mit ernster Miene an und holte schließlich ein zerknittertes Blatt Papier aus der Tasche. Er las die Nachricht von Jorge Oliveira wohl schon zum hundertstenmal: »›
Man hat mich erwischt. Die Verfolger sind keine Polizisten. Helft. Konsortium der Ölkonzerne, geleitet von van der Waal, Assistentin Mary Cash, Physiker werden umgebracht – der Finne Elvas stirbt heute. Engel des Zorns …
‹ Sie helfen Jaap van der Waal also dabei, Physiker zu ermorden?« sagte Timmerman ganz ruhig.
    »Nein«, erwiderte Mary barsch, und ihr wurde sofort klar, daß die Aktion abgebrochen werden mußte. Die Polizei hatte sie mit dem Konsortium in Verbindung gebracht. Wußte van der Waal davon? Hatte er sie schon verraten? Zufrieden dachte Mary daran, wie klug es gewesen war, Beweise gegen van der Waal zu sammeln. Das Adrenalin ließ ihr Herz schneller schlagen, sie bekam Lust auf eine Zigarette.
    »Sie sind ja eine ehemalige IRA-Aktivistin und waren öfter verhaftet, als Sie zählen können. Und Ihr Ehemann …«, Timmerman schaute kurz in seine Unterlagen, »Fergus Cash ist ja wohl sogar für Ihre edle Idee gestorben.« Er versuchte sie absichtlich zu provozieren.
    Der Zorn in Mary schwappte über. »Die Zeiten sind lange vorbei. Es ist Frieden geschlossen worden, nur ein paar Kriegsfanatiker kämpfen noch weiter. Ich gehöre nicht zu ihnen.« Sie schloß die Augen, als auf ihrer Netzhaut ohne Vorwarnung das Bild der Leiche ihres Mannes auftauchte. Der Bestattungsunternehmer hatte sein Möglichstes getan, um Fergus herzurichten, aber die Schmerzen

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