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Finnisches Quartett

Finnisches Quartett

Titel: Finnisches Quartett Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Taavi Soininvaara
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die Ohren zu und verkündete Sätze aus der Bibel, um nicht zu hören, was der Engel der Offenbarung sagte.
»… so will ich doch ihr Flehen nicht hören … so gefallen sie mir doch nicht, sondern ich will sie mit Schwert, Hunger und Pestilenz aufreiben.«
Die Erscheinungen überfluteten ihn in einem nicht enden wollenden Strom, er erkannte die klopfenden Adern auf der Schläfe des wütenden Soldaten, die wie wahnsinnig herumrennenden brennenden Schafe, den zahnlosen Mund des gefolterten Loyalisten … Der Engel der Offenbarung brachte Erinnerungen an die Oberfläche, die in der Welt des Bösen begraben waren, die Bestie heulte, und Ezrael spürte, wie ihm die Wahrheit entglitt, sosehr er auch versuchte sie festzuhalten. Er würde das nicht mehr lange überstehen.
    Ulrike predigte die Szenen aus dem Leben Eamon O’Donnells, die sie in Ezraels Evangelium gelesen hatte; die Worte strömten ihr von den Lippen wie dem allwissenden Erzähler in einem Roman: Der Vater, der den Gürtel schwingt, die Mutter, die Papierengel ausschneidet, die erste Brandstiftung Eamons, der das Feuer vergöttert, der Ausbruch der Gewalt, die ersten zu Tode gequälten Tiere und der wegen sechsundsechzigeinhalb Penny zerschmetterte Finger. Zwischendurch forderte sie Ezrael immer wieder auf, seinen Auftrag zu beenden.
    Ulrikes Mund war so trocken, daß ihr die Worte im Hals steckenblieben, sie trank Wasser aus dem Tonbecher und überlegte voller Angst, wohin ihr Versuch führen würde. Aber sie war gezwungen weiterzumachen, sie mußte fliehen. Es lähmte Ezrael, wenn sie über die Vergangenheit sprach, anscheinend hatte er große Mühe, nicht ganz zusammenzubrechen. Ulrike dankte ihrem Schöpfer, daß sie nicht in Ezraels Haut steckte. Der Mann schrie wirres Zeug, saß zusammengekrümmt nackt unter dem Altartisch und zitterte. Es fiel ihr schwer, Ezrael zu quälen, er gehörte in Behandlung.
    Entweder Ezrael würde völlig gelähmt und sie könnte fliehen, oder er drehte endgültig durch und brachte sie um, vermutete Ulrike. Sie hatte Angst, aber jetzt war sie immerhin im Vorteil, das war die bessere Alternative, als demütig dazusitzen und auf das eigene Ende als Gefangene eines Wahnsinnigen zu warten. Als ihre Gedanken ohne Vorwarnung einen Sprung machten zu Lasse und die Sehnsucht sie packte, schloß Ulrike die Augen; sie mußte durchhalten.
    »Ich sage dir, Eamon, dein Auftrag ist zu Ende geführt«, Ulrike versuchte ihren Worten biblischen Klang zu verleihen und schrak zusammen, als Ezrael urplötzlich aufsprang. Seine Augen waren weit aufgerissen, aber zu ihrer Erleichterung brannte in ihnen nicht derselbe Haß wie amWorld Trade Center. Auch die begierigen Blicke waren verschwunden.
    Schwarz und Rot vermischten sich mit den Erscheinungen und den Stimmen in Ezraels Kopf, er hockte sich auf den Boden und schwankte hin und her. Irgend etwas mußte er tun, sonst würde sein Kopf zerspringen. »Ich brauche eine dritte Offenbarung, daß der Auftrag beendet ist.« Ezrael faltete die Hände, beugte sich über den Altartisch und murmelte etwas. Dann öffnete er das Große Buch an einer zufälligen Stelle und las laut vor:
»Henoch aber zeugte Irad, Irad zeugte Mahujael …«
Ezrael knurrte und schlug das Große Buch an einer anderen Stelle auf:
»Und da der König Rehabeam hinsandte Adoram, den Rentmeister, warf ihn ganz Israel mit Steinen zu Tode.«
    Ezrael schaute Ulrike verblüfft an und konnte seine Angst nicht verbergen. »Nun das dritte Mal. Das ist die heilige Zahl«, sagte er, tastete einen Augenblick am Großen Buch herum und las dann:
»Und Gott sandte den Engel gen Jerusalem, sie zu verderben. Und im Verderben sah der Herr darein und reute ihn das Übel, und er sprach zum Engel, dem Verderber: Es ist genug; laß deine Hand ab!«
Ezrael entfuhr ein Seufzer der Erleichterung, und ein Ausdruck der Ruhe kehrte auf sein Gesicht zurück. »Das war die dritte Offenbarung, den Auftrag abzubrechen. Erst Mary, dann du, und nun der Allerhöchste.«
    Ulrike fiel es schwer, zu glauben, was da geschehen war, hatte sich Ezrael die Bibelstelle etwa selbst ausgedacht? Sie rannte zum Altartisch und las den fünfzehnten Vers in Kapitel 21 der Ersten Chronik. Ezrael hatte die Stelle nicht erfunden. Zufall oder Wunder? Die Frage dröhnte in Ulrikes Kopf. Dann bemerkte sie, daß die Seite mit einem Plastikaufkleber markiert war, und wußte nicht mehr, was sie denken sollte.
     
    Mary Cash stand am Westufer des Oudezijds Voorburgwal-Kanals und betrachtete

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