Finnisches Quartett
schliefen, und Ratamo mußte an seine Freundin von der Insel denken. Vor etwa zwei Jahren hatte er eine Wildente gerettet, die in der Sommerhütte im Rauchfang des Kamins steckengeblieben war. Sie brachte seiner Rettungstat so viel Wertschätzung entgegen, daß sie seitdem immer mal wieder auf der Insel zu Besuch gewesen war und gern auch in die Hütte hineinspazierte. Nelly hatte die Tauchente Alli getauft.
Ratamo überlegte, in welchem schwarzen Loch Ulrike Berger und Mary Cash verschwunden waren und warum Lasse Nordman am Tag seine Schatten für ein paar Stunden abgeschüttelt hatte. Nordman sagte kein Wort über sein Kunststück. Ratamo beschäftigte auch die Frage, ob Nordman dasselbe Schicksal wie Jorge Oliveira und den Mitarbeitern von Future.com drohte? Der Kloß, der Ratamo seit dem Maifeiertag im Magen lag, prophezeite, daß diese Ermittlungen erst am Anfang standen.
Als das Taxi das Zentrum von Den Haag erreichte, konzentrierte sich Ratamo wieder auf das, was er draußen sah. Jedes zweite Haus im Verwaltungszentrum Hollands sah wie eine Behörde aus, das war auch zu erwarten. In welchem Teil der Stadt lag wohl Riittas Arbeitsplatz bei Europol? Ihm fiel ein, daß Riitta vielleicht nicht einmal von seinem Besuch wußte, und durch puren Zufall würden sie sich kaum über den Weg laufen. Überraschenderweise hatte er Lust, Ilona anzurufen.
Das Hotel der Mercure-Kette, ein moderner Glas- und Metallkasten, sah genauso aus wie in allen anderen Ländern. Heutzutage wurde alles zur Kette, sogar die Speiserestaurants, die Cafés, die Pubs und die Ärztehäuser, Individualität kostete vermutlich zuviel.
Die beiden Finnen betraten mit ihrem Gepäck das Foyer,füllten die Anmeldeformulare aus und warteten schweigend auf ihre Keycard. Ratamo sah im Foyer ein Mädchen in Nellis Alter und war Marketta einmal mehr dankbar: Nelly verbrachte bei ihrer Großmutter so viel Zeit, daß sie eigentlich zwei Zuhause hatte.
»Sie werden erwartet, da in der Pullman Bar«, sagte die Hotelangestellte höflich, die in Ratamos Rücken aufgetaucht war und mit der Hand zur Bar im Foyer wies. Im gleichen Augenblick reichte die Frau an der Rezeption den beiden Finnen ihre Keycard.
»Wir sehen uns morgen früh«, rief Ratamo Nordman zu. Sicher hatte Riitta von Ratamos Reise nach Den Haag erfahren und beschlossen, den ersten Schritt zu unternehmen. Warum nicht, es war kurz vor sieben Uhr, der Abend war also noch jung.
Henk Timmerman vom AIVD richtete in der Pullman Bar seinen zwei Meter langen Körper auf und ging zu dem finnischen Ermittler, der im Foyer suchend um sich blickte. »Herzlich willkommen in Den Haag, Arto. Im Laufe des Abends ist einiges passiert, und da dachte ich, es ist besser, wenn ich mal vorbeikomme.« Henk Timmerman, der englisch sprach, wirkte müde, aber zugleich froh, einen Bekannten zu treffen. Die beiden hatten sich im letzten Herbst bei einem Seminar zum Thema Terrorismus in Brüssel kennengelernt und gemeinsam einen angenehmen Abend an einem Tisch in der Nähe des Bierhahnes im Restaurant Le Falstaff verbracht.
Sie setzten sich in karierte Sessel. In der Bar verbrachten außer ihnen nur drei lebhaft diskutierende Herren, die so aussahen, als seien sie sehr einflußreich, ihre Zeit. Ratamo erinnerte sich, daß Timmerman im vergangenen Herbst die gleiche Fliege mit Kaschmirmuster getragen hatte oder zumindest eine ähnliche, aber jetzt zitterte sein Bart nicht hin und wieder beim Lachen wie damals in der Brüsseler Nacht.Innerhalb weniger Minuten hatten sie sich darüber ausgetauscht, wie es ihnen ging und was es Neues gab. Dann holte Timmerman an dem langen glänzenden Bartresen zwei Bier. Als er zu Ratamo zurückgekehrt war, kostete er das Gerstengetränk, wischte sich den Schaumschnurrbart weg und kam zur Sache.
»Mary Cash ist ermordet worden und zugleich einer der Gehilfen Jaap van der Waals – Pieter Dijkshoorn. Man hat sie in einer … vorsichtig ausgedrückt … etwas seltsamen Wohnung in einem Viertel von Amsterdam gefunden, das einen … sehr schlechten Ruf hat. Dijkshoorn war Cash offensichtlich bis zu der Wohnung gefolgt, hatte die Frau umgebracht und dann ein Messer in den Hals bekommen. Die Wohnung gehört höchstwahrscheinlich dem Wahnsinnigen, der sich vor dem WTC ausgetobt hat und auch bei euch in Finnland zu Besuch war. Die Nachbarn haben den Mann auf den Phantombildern erkannt. Verwunderlich ist nur, warum dieser Verwirrte Ulrike Berger nicht sofort, als er die Gelegenheit dazu hatte,
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