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Finnisches Quartett

Finnisches Quartett

Titel: Finnisches Quartett Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Taavi Soininvaara
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alle anderen, an denen er bisher teilgenommen hatte. Eine Ausnahme bildete nur der Fall, bei dem seine Frau gestorben und Nelli in Lebensgefahr geraten war. Im selben Augenblick fiel ihm ein, was Nordman etwa zwei Stunden zuvor im Flugzeug gesagt hatte: »… der größte Teil der Menschen müßte ungeboren bleiben, die Mehrheit von ihnen verschwendet ihr Leben mit dem Streben nach Genuß und Geld …«, oder so ähnlich. Ratamo holte die Kautabakdose aus der Tasche und beschloß, Nordman die Neuigkeiten über Ulrike Berger erst am nächsten Morgen zu erzählen.

31
    Ezrael lief auf dem blanken Betonfußboden der Sicherheitswohnung im Kreis wie ein in Trance versunkener Schamane. Der Auftrag war zu Ende, der Bote lag tot in seiner Kirche, und die Bestie tobte, sie war frei, weil sie nichts mehr hielt. Er brauchte einen neuen Auftrag, sonst würde er in die Welt des Bösen zurückgeschleudert werden, und das ertrüge er nicht. Jeden Augenblick konnte ihm der Kopf zerspringen, in dem alles durcheinanderschwirrte: Gerüche, Erscheinungen, Farben
»… daß du sie lehrst den Weg, darin sie wandeln, und die Werke, die sie tun sollen.«
    Die Bestie heulte wie ein gequältes Tier, nur in seiner Kirche schlief sie gut. Hier fehlte alles: die Kerzen, der Altar, die Kruzifixe, die Gemälde … Am meisten versetzte es ihn in Wut, daß er das Evangelium in der Kirche vergessen hatte, jetzt würde irgendein Sünder den heiligen Text lesen, ohne seine Bedeutung zu verstehen. Ezrael verdrängte die Bilder, die aus der Erinnerung auftauchten: das Weihnachtsfest, als ihm die Frau, die Papierengel ausschnitt, das leere Evangelium geschenkt hatte. Doch nun fühlte er sichnur noch leerer. Zum Glück hatte er wenigstens das Große Buch mitgenommen. Sein Blick fiel auf das Metallgitter knapp über dem Fußboden, das die Wand durchbrach, dahinter lauerte die Dunkelheit. Er zuckte zusammen, als er an den modrigen Gestank im Kellerloch denken mußte.
    Ulrike fürchtete sich jetzt mehr als jemals zuvor, seit sie Ezraels Gefangene war. Das Bild von Marys Körper, der im Kugelregen zuckte, wurde sie nicht wieder los, der Tod schien über allem zu schweben. Sie hatte das Gefühl, in der Angst zu ertrinken; es half ihr nicht einmal, wenn sie an Lasse dachte. Wie war sie nur mitten in die Welt des Todes geraten, obwohl sie doch den Menschen helfen wollte? Zu ihrer Überraschung sah sie, daß sich Ezrael Pillen in den Mund stopfte und Wasser dazu trank. Nahm der Mann Aufputschmittel? Es war kurz vor sieben Uhr, sie vermutete, daß Ezrael in der Nacht kein Auge zugemacht hatte. Der Druck in ihrem Unterleib wuchs, aber sie beschloß, dieses Bedürfnis so lange wie möglich zu unterdrücken.
    Sie mußte fliehen, wiederholte Ulrike unablässig, sie durfte nicht in Verzweiflung versinken. Ezrael würde bald irgend etwas Entscheidendes unternehmen, oder seine Psyche würde es für ihn tun. Ihr mußte etwas einfallen, Ulrike dachte angestrengt nach. Über Ezraels Kindheitserinnerungen zu reden führte nur dazu, daß der Wahnsinnige die Kontrolle über seine Umgebung verlor und noch verwirrter wurde. Plötzlich kam Ulrike eine Idee. Niemand kannte Ezrael besser als Mary, und Mary hatte erreicht, daß Ezrael ihr gehorchte, indem sie ihm Befehle erteilte wie einem kleinen Jungen. Vielleicht erinnerte das Ezrael an seinen Vater, den Soldaten. Ulrike überlegte, ob sie es wagen sollte, Ezrael so wie Mary Befehle zu geben, und sie entschied sich, daß sie das Risiko eingehen mußte, obwohl sie Angst davor hatte, dem Engel des Zorns dann ein drittes Mal zu begegnen. Und vielleicht das letzte Mal.
    Das Telefon klingelte, und Ezrael blieb stehen. Nur der Bote kannte die Nummer, und der würde niemanden mehr anrufen. Möglicherweise war das eine Offenbarung, vielleicht bekam er einen neuen Auftrag. Er mußte das Gespräch annehmen.
    Der Anrufer stellte sich nicht vor. »Sind Sie der Engel des Zorns?«
    Ezrael war nahe daran, das Gespräch zu beenden, aber irgend etwas hielt ihn davon ab. Er sah Grün, spürte etwas Verlockendes und roch keine Gefahr. Offenbarungen zeigten sich in vielerlei Formen. »Wer ist da?«
    Der Mann antwortete mit weicher Stimme, fast flüsternd. »Wenn Sie nun mal der Engel des Zorns sind, dann können Sie mich Seraphim nennen. Das ist der Engel mit sechs Flügeln, der Name bedeutet ›brennende Flamme‹, ›Feuer‹ oder ›Ankläger‹. Sie …«
    »… sind die oberste Gruppe in der neunstufigen Engelhierarchie, der erste Chor in der

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