Finnisches Quartett
ersten Hierarchie«, ergänzte Ezrael den Satz. »Sie werden im Großen Buch nur einmal erwähnt: ›
Seraphim standen über ihm; ein jeglicher hatte sechs Flügel: mit zweien deckten sie ihr Antlitz, mit zweien deckten sie ihre Füße, und mit zweien flogen sie.
‹« Ezrael strahlte vor Begeisterung, er hatte die richtige Ahnung gehabt, das war ein wichtiges Gespräch.
»Sie kennen Ihre Bibel so gut, wie ich es vermutet habe. Dieses Gespräch wird nicht abgehört und nicht aufgezeichnet, also komme ich direkt zur Sache. Ich will Ihnen helfen, weil auch ich möchte, daß das Recht verwirklicht wird und die Übeltäter sterben. Ich kann Ihnen verraten, wer hinter dem Konsortium und den Morden an den Physikern steht und für den Tod Ihrer Schwester Mary Cash verantwortlich ist.«
Es schmerzte Ezrael, den Namen zu hören; die blutüberströmte Leiche des Boten tauchte vor ihm auf, dann daskleine rothaarige Mädchen, das ein Eis am Stiel lutschte – aber er unterdrückte die Bilder und zwang sich, über Seraphims Worte nachzudenken. »Ich weiß, wer den Mord am Boten organisiert hat«, sagte Ezrael schließlich.
»Jaap van der Waal ist nur ein Strohmann, eine unwichtige Person, um die Sie sich nicht kümmern müssen. Ich sorge dafür, daß van der Waal stirbt. Aber ohne Ihre Hilfe wird das Recht nicht verwirklicht. Wenn Sie den töten, der all das geplant hat, zahle ich Ihnen das Doppelte von dem Honorar, das Mary Cash zugesagt war, und ich verrate Sie nicht. Wie Sie bemerken, bin ich – anders als die Polizei – imstande, Sie zu finden. Mit Hilfe von Satelliten können wir Menschen wirksamer überwachen als jeder andere.«
Ezrael rekapitulierte das Gehörte, verstand aber den Gesamtzusammenhang nicht. »Wer hat den Boten ermorden lassen?«
»Sie gehen also auf meinen Vorschlag ein?« Der Anrufer schien verwirrt zu sein.
»Wer?« brüllte Ezrael.
Seraphim wollte keinen Streit. »John Dexter. Ein hoher Beamter im Energieministerium der USA«, sagte er und berichtete von Dexters Plan, mit dem er versuchte die Entwicklung eines Fusionsreaktors zu bremsen. »Nehmen Sie die Beweise, die Dexter betreffen, mit, und kommen Sie nach Washington. Ich bin ein einflußreicher Mann und werde dafür sorgen, daß Sie unbehelligt einreisen können, und ich helfe Ihnen, Dexter zu … erledigen«, versprach der Anrufer und beendete das Gespräch.
Seraphim lächelte, er würde schnell erfahren, ob Eamon O’Donnell auf seinen Vorschlag einging: Entweder reiste der Mann nach Washington oder nicht. Jede Bewegung O’Donnells wurde mit den wirkungsvollsten Mitteln der elektronischen Aufklärung verfolgt. Seraphim drehte sich auf seinem mit Leder bezogenen Bürostuhl und griff wiedernach dem Telefonhörer. Als nächstes würde er John Dexter beim holländischen Nachrichtendienst denunzieren.
»Wer war das?« Ulrike hoffte, daß die Polizei Ezraels Nummer herausbekommen hatte. Vielleicht bereitete man schon die Erstürmung des Kellers vor. Vielleicht würde sie das überstehen, wenn es ihr gelang, bis dahin am Leben zu bleiben. Vielleicht.
»John Dexter«, murmelte Ezrael. War das eine Offenbarung? Hatte er gerade einen neuen Auftrag erhalten, der die Bestie zum Schweigen und die Welt des Bösen dorthin zurückbringen würde, wo er sie vor Jahren eingesperrt hatte?
Ulrike kannte den Namen. John Dexter galt als einer der Verantwortlichen für die unökologische Energiepolitik der USA. Sie betrachtete Ezraels Kindergesicht und erinnerte sich an Marys Taktik. »Eamon, mit wem hast du gesprochen?« fragte Ulrike so streng und befehlend, wie sie es vermochte.
Das im Wind flatternde geblümte Kleid des rothaarigen kleinen Mädchens verschwand, als Ezrael aus seinen Gedanken aufschreckte. »John Dexter hat den Boten ermorden lassen.«
Es dauerte lange, bis Ulrike erreichte, daß Ezrael ihr den Inhalt des Telefongespräches wiederholte. Die Geschichte war so phantasievoll, daß sie zuweilen fürchtete, Ezrael könnte sich alles ausgedacht haben.
Ulrike schien es so, als würde auch ihre eigene Welt in zwei Teile zerfallen. Seraphims Geschichte hörte sich verrückt, aber zugleich absolut logisch an. Mehr als jedes andere Land hatten die USA ein großes Interesse daran, die Arbeit an der Entwicklung alternativer Energiequellen zu bremsen. Wenn die Entwicklungsländer auf dem Gebiet der Energie zu Selbstversorgern würden, könnten die USA sie nicht mehr mit Krediten und ihrer Handelspolitik versklaven, und ihre Weltherrschaft zerfiele.
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