Finnisches Quartett
Ulrike wurde von ihrerPhantasie mitgerissen. Kostenlose Energie würde die Welt verändern: Die Wälder würden nicht mehr zu Brennholz zerhackt, die uneingeschränkte Wasserversorgung würde Menschenleben retten und die Landwirtschaft zur Blüte führen, sogar Wüsten würden grün werden. Der Lebensstandard der Dritten Welt stiege, die Bildungssysteme der armen Staaten würden sich entwickeln, die Menschen würden die Grundsätze der Demokratie lernen und die Möglichkeit erhalten, sie in der Praxis umzusetzen.
Ulrike sah vor ihrem geistigen Auge, was geschehen würde, wenn es ihr gelänge, sowohl das Konsortium als auch John Dexter zu entlarven: Sie würde gleichzeitig die Verderbtheit sowohl der Konzernriesen als auch der Weltpolitik beweisen, die Sabotage beenden, mit der man die Entwicklung eines Fusionsreaktors aufhalten wollte, und ihren Namen in die Annalen der Geschichte schreiben. Und sie würde ihr Versprechen erfüllen und mehr Gutes tun, als sie jemals auch nur zu träumen gewagt hatte. Individuen waren es, die alle großen Taten vollbrachten, jede umwälzende Idee war im Kopf eines Menschen entstanden: Gandhi, Freud, Buddha …
Aber wie sollte sie anderen berichten, was sie wußte?
32
Den Haag badete in der Morgensonne und wirkte friedlich und sauber, der Verkehr floß gleichmäßig dahin, und zwischen den Gebäuden tauchten dann und wann grüne Parkanlagen auf. Der Anblick erinnerte an das viktorianische London, das man aus Fernsehserien kannte, es fehlten nur die Pferdekutschen und Zylinderhüte. Die Müdigkeit lag bleischwer auf Ratamos Körper, die Schlafpillen hatten funktioniert wie die russische Demokratie, und da die Besprechungzu einer unmenschlich frühen Zeit begann, um sieben Uhr, hatte der Wecker noch vor dem Hahn gekräht.
Im Taxi herrschte eine angespannte Atmosphäre. Lasse Nordman waren beim Frühstück die Nerven durchgegangen, weil er die Informationen über Ulrike Berger seiner Meinung nach zu spät erfahren hatte. Ratamo gelang es, ihn etwas zu besänftigen, indem er ihn zum AIVD mitnahm, obwohl die Holländer einem Ökoterroristen vermutlich nichts über die Ermittlungen sagen würden. Als Nordman vom Mord an den beiden Mitarbeitern von Future.com und an Mary Cash erfahren hatte, wollte er auf eigene Faust nach Amsterdam fahren, aber diese Absicht hatte er zum Glück wieder aufgegeben.
Das Taxi verließ das Zentrum von Den Haag in Richtung Westen, laut Timmerman dauerte die Fahrt weniger als fünf Minuten. Das Hauptgebäude des AIVD in der Dokter-van-der-Stam-Straat 1 sah neu aus und wirkte wie eine Kreuzung von Wohnhaus und Bürokomplex: Die bräunliche Ziegelverkleidung des unteren Teils wurde weiter oben von einer dunklen Metallfassade abgelöst.
Ratamo drückte auf den Summer und fragte sich, was die drei Fische auf dem Logo des AIVD wohl symbolisieren sollten. Nordman schwieg immer noch, zum Glück.
»Goedenmorgen. Hoe kom ik …«
Die Stimme des Diensthabenden war über den Lautsprecher zu hören, aber Ratamo unterbrach die in niederländisch gestellte Frage und teilte auf englisch seinen Namen und seine Dienststelle mit. Die Tür ging auf. Ratamo erhielt am Schalter eine Besucherkarte, aber der Name von Nordman fand sich nicht auf der Gästeliste, also schickte man die Finnen in den Windfang, wo sie warten sollten. Das Schweigen zwischen den beiden wurde immer drückender.
Schließlich kam Henk Timmerman und schaute verdutzt drein, als er Lasse Nordman erkannte. Er warf Ratamo einenfragenden Blick zu und gab dem Ökoterroristen kurz die Hand.
»Lasse Nordman möchte mehr darüber erfahren, in welcher Lage sich Ulrike Berger befindet«, sagte Ratamo und faßte kurz zusammen, was er Nordman am frühen Morgen berichtet hatte.
Timmerman schaute den Ökoterroristen, den er vor zwei Tagen verhört hatte, kühl an. »Bedauerlicherweise kann ich nicht mehr berichten, weil Ulrike Berger mit mehreren Mordfällen in Zusammenhang steht. Oberkommissar Ratamo kann Ihre Informationen sicher später im Laufe des Tages ergänzen«, sagte der großgewachsene Holländer kurz und knapp, wünschte Nordman einen guten Tag und ging zum Fahrstuhl, ohne sich die finnischen Flüche des Mannes anzuhören.
Als sich die Tür des Aufzugs schloß, ließ Timmerman bei Ratamo Dampf ab. »Manche Leute sind aber auch unverschämt … Nordman legt die Datensysteme des größten holländischen Unternehmens lahm, wird bei uns verhört und glaubt zwei Tage später, daß man ihm hier einen roten
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