Finnisches Requiem
hatte sie dennoch regelmäßig die in dem neuen Rezept verschriebenen Neuroleptika eingenommen. Die größere Dosis ermüdete sie noch mehr.
Die Morde an den Kommissaren gingen ihr nicht aus dem Kopf, sosehr sie es auch versuchte. Ihr blieb nichts anderes übrig, als die Psychiaterin anzurufen. Irmeli mußte ihr einfach glauben. Sie würde ihr von Capri erzählen und von dem Mann, der in dem Unternehmen namens »Kreštik« oder »Krešatik« arbeitete. Wenn man den Mann fände, könnte er möglicherweise einen Mord verhindern, vielleicht auch mehrere. Und niemand brauchte etwas von Pastor zu erfahren. Er bekäme keine Schwierigkeiten, und sie würden ein glückliches Paar werden.
Es fiel ihr schwer, Irmeli zu vertrauen. Hannele wünschte sich, daß sie nur Pastor vertrauen müßte und sonst niemandem.
Widerwillig griff sie zum Telefon.
Irmeli Itälä legte den Hörer auf und schaltete die rote Lampe neben der Tür ihres Sprechzimmers ein. Ein heftiger Regenguß prasselte auf die Fensterbretter. Das Geräusch störte Irmeli, sie mußte sich konzentrieren und schloß deshalb das Fenster.
Sie dachte fieberhaft nach. Hannele Taskinen hatte von denselben Wahnvorstellungen gefaselt wie gestern in der Psychotherapie. Die Frau behauptete aber, sie hätte die Medikamente, so wie in dem neuen Rezept verschrieben, eingenommen; hoffentlich wirkten sie schon morgen. Jetzt hatte Hannele weitere Einzelheiten ihrer Geschichte entwickelt. Das war auch zu erwarten gewesen, die Wahnvorstellungen wurden im Kopf des Patienten ständig ausgebaut und ergänzt. Na ja, morgen würde sie Hannele sehen.
Es war unmöglich, Hanneles Geschichte zu glauben. Sie glich den Vorstellungen, die Hannele früher gehabt hatte. Verwunderlich war allerdings, warum sie ihr diesmal so offen von ihren Phantasien berichtete und warum die anderen Symptome anscheinend fehlten. Auch die Hörhalluzinationenwaren nicht wiedergekehrt. Oder Hannele redete nicht davon.
Aus irgendeinem Grund tat Hannele ihr mehr leid als viele ihrer anderen Patienten. Hannele war ungefähr in ihrem Alter. Sie sahen sich auch ein wenig ähnlich, beide waren blond und zierlich. Oder bedauerte sie sich etwa selbst? Sie wollte Hannele helfen, wußte aber, daß dafür viel mehr nötig war als wirksame Medikamente und eine Therapiesitzung pro Woche. Elf Jahre lang war Hannele von einer Klinik zur anderen und von einem Therapieprogramm zum nächsten weitergereicht worden, bis man sie dann schließlich aufs Abstellgleis, in die ambulante Behandlung, abgeschoben hatte. Wenn der Zustand einer Gesellschaft daran gemessen wurde, wie sie sich um ihre schwächsten Mitglieder kümmerte, dann ging es Finnland heutzutage schlecht. Ihre Heimat hatte sich verändert und war von einem Wohlfahrtsstaat zu einem Land geworden, in dem nur das Geld zählte.
Auch der Fragebogen der Sicherheitspolizei beschäftigte Irmeli Itälä. Die SUPO suchte einen Mann, der sich an den Machthabern oder Politikern rächen wollte und zur Anwendung extremer Gewalt fähig war. Die dem Formular beiliegenden englischsprachigen Fragen wiesen eindeutig darauf hin, daß die Polizei nach den Tätern des Mordes im Atheneum suchte. In den Nachrichten wurde ja kaum noch über anderes berichtet. Es erschien unfaßbar, daß der Kommissar in Helsinki erschossen worden war, der Terrorismus hatte auch Finnland erreicht. Ob der Mord in Sevilla das Werk derselben Menschen war? Kein Wunder, daß die Polizei nach einer verhaltensgestörten Person suchte.
Sie müßte die Polizei über Hanneles Geschichte informieren, wenn Hannele die Weitergabe ihrer Patientendaten erlaubte. Aber was sollte sie der Polizei erzählen? Sollte sie das, was Hannele ihr verraten hatte, als Produkt eines krankenGeistes abtun? Sie würde ihren guten Ruf als Psychiaterin verlieren, wenn sich herumsprach, daß sie an die Wahnvorstellungen ihrer Patientin glaubte.
Irmeli seufzte, als ihr einfiel, wer der Patient um zehn war. Sie sah die aufrichtigen Augen des jungen Mannes schon vor sich. Niemanden interessierte, was hinter ihnen zu entdecken war. Außer Irmeli Itälä. Einmal in der Woche, eine Stunde lang.
18
»
Tessék«,
sagte die üppig gebaute Kellnerin und stellte die dampfende Portion Töltött Paprika vor Attila Horvát auf den Tisch im Restaurant Alföldi Étterem. Die gemütliche Gaststätte im Zentrum von Pest war einfach eingerichtet, es gab keine Bilder oder Restaurantrequisiten und auch keine dröhnende Musik.
»
Köszi «
, brummte Horvát,
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