Finnisches Requiem
wäre auch kaum fähig gewesen, sich auf die Lektüre zu konzentrieren: Jede volle Stunde wurde in den Nachrichten über die Morde an den Kommissaren berichtet. Pastor und die Morde schwirrten ihr ständig durch den Kopf. Und Irmeli Itäläs Stimme:
»… du mußt verstehen, daß deine Krankheit die Ursache für diese Phantasiebilder ist …«
In gewisser Weise hoffte sie, Irmeli möge recht haben, aber sie wußte, daß dem nicht so war.
Hanneles Blick wanderte zu einem Foto vom Stierrennen in Pamplona. Bei dem jedes Jahr im Juli stattfindenden Festival wurden die Stiere durch Schmerzen gereizt, bis sie rasend waren vor Wut, dann ließ man sie frei in die schmalen Gassen mitten unter die Menschenmassen. Zum Glück gelang es den Stieren jeden Sommer, jemanden zu verletzen, und im Laufe der Jahre hatten fast zwanzig Tierquäler ihr Leben dabei gelassen.
Plötzlich nahm der Fernseher ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. »… Tiberius, der nach Kaiser Augustus an die Macht kam, verbrachte die letzten Jahre seines Lebens auf der Insel Capri«, erzählte der Sprecher. »Nach seinem Tode im Jahre 37 gelangte der Tyrannenkaiser Caligula an die Macht, der …«
Hannele schaltete den Fernseher aus und vergrub ihren Kopf in den Kissen. Capri. Jetzt erinnerte sie sich. Einer der Orte, die Pastor erwähnt hatte, war Capri. Einer der Morde würde dort begangen werden. Das bildete sie sich nicht nur ein.
Sie hörte immer genau zu, wenn Pastor etwas sagte. Auch jetzt dachte sie daran, wie er sich am Telefon darüber ereifert hatte, daß die EU nach und nach auch die letzten Reste der Unabhängigkeit Finnlands zerstörte. Man sollte ihm glauben: Pastor hatte in vielerlei Hinsicht recht. Auch in seiner Gesellschaftskritik. Heutzutage zählten nur Geld und Ergebnisse. Einem Menschen, wie sie es war, hatte die Gesellschaft nichts zu bieten. In einer Welt, die den Erfolg anbetete, war sie Abfall, eine Unperson, die unter den Teppich gekehrt wurde.
Hannele schnürte den Gürtel ihres verblichenen Morgenmantels enger. Seit gestern abend wollte sie ein Bad nehmen. Ein Stapel ungelesener Zeitungen fiel auf den Fußboden, als sie ihr Telefon auf dem Couchtisch der Einzimmerwohnung suchte. Das verschimmelte Geschirr, das hier und da herumstand, erinnerte an Bakterienkulturen. Sie wählte Pastors Nummer. Seit sie vor drei Tagen vom Mord an dem deutschen Kommissar erfahren hatte, versuchte sie immer wieder, ihn zu erreichen.
»Unter der von Ihnen gewählten Nummer ist zur Zeit niemand erreichbar …«, sagte ein Mann mit einer tollen Stimme vom Band, wie bei jedem ihrer bisherigen Versuche. Sie hatte Angst. Womöglich war Pastor schon etwas zugestoßen?
Hannele wollte Pastor nicht verlieren. Sie würden ein Paar, eine richtige Familie werden. Wenn es ihr gelang, die Krankheit zu besiegen, hätte alles in ihrem Leben seinen richtigen Platz gefunden. Sie kannte die Ursache ihrer Krankheit. In ihrer Kindheit war die alleinerziehende Mutter mit ihren Alkoholproblemen nicht imstande gewesen, ihr Sicherheit zu geben. Der Mangel an Geborgenheit und Liebe prägte das sensible Kind. Die frühen Angsterfahrungen und traumatischen Ereignisse machten sie unsicher. Hannele traute sich nichts zu und war nicht fähig, irgend jemandem zu vertrauen. Schon wegen Kleinigkeiten war sie beleidigt, sie fürchtete ständig, verlassen zu werden, vertrug Streß, Kritik oder Mißerfolge nicht, suchte Halt bei anderen, sehnte sich danach, geführt zu werden, und sie machte sich ständig Vorwürfe, hielt sich für wertlos und schlecht und wurde die Wut auf ihre Mutter nicht los. So war es in ihrer Krankengeschichte zu lesen. Sie kannte den Text auswendig. Irmeli und viele andere Therapeuten hatten ihr im Laufe der Jahre auch erklärt, was er bedeutete.
Irmeli war der Ansicht, daß Hannele vor allen Menschen Angst hatte, weil sie glaubte, sie würde von ihnen genauso behandelt wie von ihrer Mutter. Irmeli irrte sich, denn vor Pastor hatte Hannele keine Angst. Pastor behandelte sie stets liebevoll und so wie seinesgleichen. Und Pastor log nie.
Hannele bemühte sich, ihrer Unruhe Herr zu werden. Regentropfen klopften an das Fenster, das gleichmäßige Geräusch beruhigte sie ein wenig. In ihrem Kopf pulsierten pausenlos Pastors Worte. Sie war sicher, daß Pastor etwas von den Morden an den Kommissaren wußte und daß sein Freund in Budapest auf irgendeine Weise an ihnen beteiligt war. Ihr drohte keine neue Psychose, obwohl Irmeli das behauptete. Sicherheitshalber
Weitere Kostenlose Bücher