Finnisches Requiem
an.
»Wieso?« entgegnete der Rotschopf aufgebracht. »Vielleicht hat Varis den Mord geplant, und die anderen vom ›Global Block‹ haben ihn ausgeführt.«
Die Zweifel trafen Wrede wie Dolche. Hatte er doch auf das falsche Pferd gesetzt?
24
Pastor schaute von der Terrasse des Restaurants La Canzone del Mare auf die Faraglioni-Felsen, die vor der Südostspitze von Capri aus dem Meer ragten und wie die Zähne eines Riesen aussahen. Die Sonne färbte das Tyrrhenische Meer rot; die blaue Insel wurde ihrem Ruf gerecht. Auf der Haut spürte man die warme, weiche Luft. Der süditalienische September entsprach dem finnischen Hochsommer.
Er fühlte sich nicht sehr wohl. Das Basecap von den New York Yankees, die Kamera, die um seinen Hals hing, die Shorts von Tommy Hilfiger und der Collegepullover der University of Columbia sollten ihn zu einem amerikanischen Touristen machen. Die künstlichen Hautfalten, die auf den Augenlidern klebten, und die geweiteten Nasenlöcher änderten sein Aussehen nur geringfügig. Er konnte sich nicht erinnern, jemals so ordinäre Sachen getragen zu haben. Die sollten wohl auch irgendwie nachlässig getragen werden. Bagheera würde weinen, wenn er ihn jetzt sähe. Er beging einen groben Verstoß gegen die Regeln für eine korrekte Bekleidung. Im Ausland mußte ein Gentleman darauf achten, daß er sich nicht von den Einheimischen unterschied.
Obgleich der leichteste der vier Anschläge bevorstand, hatte das Exekutionskommando den Plan gestern in Neapel mehrmals Schritt für Schritt durchexerziert. Am Morgen war Pastor dann mit der Caremarin-Fähre von Sorrento nach Marina Grande auf Capri gekommen.
Er kostete die Ravioli à la Caprese und beobachtete das Spiel der farbenprächtigen Wellen draußen vor der Marina Piccola. Zwar versuchte er die delikate Pasta langsam zu essen und zu genießen, aber er war unruhig, und seine Gedanken schweiften ab. Drina entglitt ihm mehr und mehr. Es hatte viel Mühe gekostet, ihn davon zu überzeugen, daß er, Pastor, kein Sicherheitsrisiko darstellte. Der Hinweis mit dem Farbspray war freilich allzu amateurhaft gewesen. Er mußte nun auch die Möglichkeit ins Auge fassen, daß Drina versuchte, ihn aus dem Exekutionskommando hinauszuwerfen. Allerdings würde er nicht gehen, bevor seine Aufgabe erfüllt war. Notfalls müßte er seinen Freund erpressen und ihm drohen, sein Wissen über »Krešatik« auszuplaudern. Drina würde ihn nie und nimmer umbringen lassen. Auf irgend etwas mußte man sich schließlich verlassen können.
Nach dem ersten Schluck aus dem Glas runzelte er die Stirn: Der Weißwein namens Tiberio erreichte nicht das Niveau der Ravioli. Heute würde Pastor einen neuen Hinweis für die Finnen hinterlassen, von dem Drina nie etwas erführe.
Irgendwo läuteten gerade die Kirchenglocken, als Pastor seinen Nachtisch erhielt, eine Torta di Mandorle, die delikat aussah. Es war Mittag. Die Schokoladen-Mandel-Torte zerschmolz auf der Zunge. Das Gespräch am Morgen mit Drina ging ihm immer noch durch den Kopf. Ob Drinas Verdacht wohl begründet war? Hatte Zoran Jugović ein anderes Motiv als den Wunsch, den EU-Beitritt Ungarns hinauszuschieben und die Geschäfte von »Krešatik« zu sichern? Wie dem auch sei, das war nicht seine Sorge. Sein eigener Plan erforderte nur, daß die Morde an den Kommissaren ausgeführt wurden, und das war vorläufig nicht gefährdet. Die Hinweise, die er am Tatort hinterließ, würden zeigen, daß er ein Freiheitskämpfer war. Zugleich wären sie eine Botschaft für die Finnen, die besagte, daß auch die EU ein Eroberer war wie seinerzeit die Großmacht Schweden und das zaristische Rußland.
Das Dessert verschwand schnell vom Teller. Pastor bestellte einen doppelten Espresso und die Rechnung, trank den Kaffee in zwei Zügen aus und griff nach seiner Brieftasche. Die Rechnung war astronomisch. Obwohl das kontinentale Italien nur einen Kanonenschuß weit entfernt lag, verdoppelten sich die Preise fast auf dem Weg von Neapel und Sorrento nach Capri. Er öffnete die Seitentasche seines Rucksacks, holte die Tüte aus dem Papiergeschäft heraus und betrachtete die Ansichtskarte, die er für Hannele gekauft hatte. Die Kühe in der Rolle von Opernsängern ließen ihn schmunzeln. Diesmal mußte er sich mit einem Geschenk begnügen, das sich leicht tragen ließ. Er wagte jedoch nicht, die Karte abzuschicken, der Poststempel hätte seinen Aufenthaltsort verraten.
Als er sein Wechselgeld erhalten hatte, verließ er auf dem nahe
Weitere Kostenlose Bücher