Finnisches Requiem
begrüßte die Männer von der Sicherheitseinheit der Regierung, die den Eingangsbereich bewachten. Das Echo seiner Schritte dröhnte durch die monumentale Treppenhalle.
Er kam zu spät, beeilte sich aber nicht: Die leitenden Beamten im Informationssaal hatten Zeit und konnten warten. Das Licht, das durch den Wappen-Löwen im Deckenfenster fiel, schimmerte auf der Treppe in den Farben des Regenbogens. Sein Rücken schmerzte. Ketonen ärgerte sich immer noch: Eben hatte ihn seine Sekretärin wegen der Yoga-Übungen aufgezogen. Er konnte sich nicht erinnern, auf Arbeit jemandem davon erzählt zu haben, aber irgendwie hatte es sich doch herumgesprochen. Und das ausgerechnet jetzt, wo Yoga anscheinend bei allen möglichen Bobos und anderen Emporkömmlingen Mode geworden war. Er wollte nicht mit den Übungen aufhören, sie hielten die Rückenschmerzen nach dem Bandscheibenvorfall im Zaum.
Ketonen betrat den Marmorfußboden im ersten Stock und blieb einen Augenblick vor der Bronzeskulptur derJungfrau Suomi im Bärenfell stehen, die einen Schild mit der Aufschrift LEX hielt und einen Löwen an ihrer Seite hatte. Jemand räusperte sich.
»Ist alles in Ordnung?« fragte der Chef den Ermittler Sotamaa. Der Mann sah so aus, als wollte er um Entschuldigung bitten. Anscheinend schämt er sich immer noch für das, was im Atheneum geschehen ist, dachte Ketonen.
»Neben den Leuten von der Sicherheitseinheit sind zwei Männer vom französischen DST hier und ich und Loponen. Das Haus ist absolut sicher«, bekräftigte Sotamaa.
Im Informationssaal erwarteten den SUPO-Chef viele ungeduldige Gesichter: leitende Beamte der Sicherheitsbehörden Deutschlands, Spaniens und Schwedens, Vertreter von Europol, Eurojust und Interpol, der Staatssekretär im finnischen Außenministerium sowie ein Haufen EU-Bürokraten, die sich für wichtig hielten. Ketonen bemerkte, daß die EU-Kommissarin für Justiz und Inneres, Francine Pichette, auf dem Platz des Vorsitzenden saß. Nur zu, dachte er. Wer zum Stab greift, wird noch lange nicht Moses.
Er sah, daß sich Loponen an der Tür plaziert hatte, von da aus konnte man den Saal am besten überwachen. Ein Beamter des französischen Sicherheitsdienstes stand hinter Pichette an der Stirnseite des U-förmigen Tisches und der andere gegenüber der Tür. Ketonen setzte sich an das linke Ende der kurzen Tischseite.
Pichette klopfte mit dem Stift auf den Tisch, und das Stimmengewirr im Saal ebbte ab. »Ich bin gekommen, um die Koordinierungsgruppe über die Auffassung der Kommission zu den Motiven für die Morde an den Kommissaren zu unterrichten. Wir glauben, daß jemand versucht, die Erweiterung der Europäischen Union zu bremsen.« Ihrer Ansicht nach sei die Situation äußerst bedrohlich: Die EU entwickele sich zu einer neuen Supermacht. Wenn alle vorliegenden Mitgliedsanträge Zustimmung fänden, würde dieEU zu einer Gemeinschaft von über fünfhundert Millionen Europäern anwachsen, zu einem Staatenbund fast doppelt so groß wie die USA. Viele glaubten, die EU werde sich zum Führer der globalen Wirtschaft und der Weltpolitik entwickeln. »Wir erinnern uns ja alle daran, daß es das erklärte Ziel der EU ist, bis zum Jahre 2010 die Führung in der Weltwirtschaft zu übernehmen«, sagte Pichette und machte den Eindruck, als hätte sie Beifall erwartet.
Eine pathetische Einleitung, dachte Ketonen. Aber leider stimmt sie. Er hatte seinerzeit gegen den Beitritt zur Union gestimmt. Nach seiner Kenntnis der Geschichte waren in Europa große Machtblöcke immer durch Kriege zerfallen. Aus irgendeinem Grund glaubten die Menschen heute, Europa würde nie mehr in einen Krieg getrieben. Er überlegte, was wohl Anlaß zu dieser Vermutung gab, immerhin waren seit dem letzten großen Krieg auf dem alten Kontinent nur ein reichliches halbes Jahrhundert vergangen und seit den Greueln auf dem Balkan erst ein paar Jahre.
Laut Pichette hatten die Gegner der Erweiterung eine Unmenge von Gründen für ihren Standpunkt. Es wurde befürchtet, daß der Beitritt der ehemaligen Ostblockstaaten die Union schwächte. Eine Gemeinschaft von unterentwickelten Agrarstaaten und führenden Wohlfahrtsstaaten wäre unausgewogen. Das landwirtschaftlich orientierte Polen mit seinen vierzig Millionen Einwohnern war einer der größten Streitpunkte.
Auch eine Mitgliedschaft Ungarns erhitzte die Gemüter. Amnesty International hatte mit aggressiven Werbekampagnen in Slowenien und Holland auf die Menschenrechtssituation in Ungarn
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