Finnisches Roulette
Hausherrin, die sie noch ängstlicher als sonst anschaute. Die dunkelblauen Gardinen waren wie immer zugezogen.
»Danke, daß du gekommen bist. Ich wollte dir keine Umstände machen, aber ich wäre fast in Ohnmacht gefallen. Ich …« Anna Halberstams schwache Stimme versagte, heute schien sie das Sprechen besonders anzustrengen. Tag für Tag fühlte sich Anna zerbrechlicher und lustloser, die Müdigkeit und das Schwächegefühl verschlimmerten sich stetig, weil sie keinen Appetit hatte und nicht schlafen konnte. Dennoch hatte sie sich auch heute das festliche rote Kleid anziehen lassen.
Als die Putzfrau der Hausherrin den Möhrensaft eingeflößt hatte, nahm sie den größten Glasvogel in diesem Raum, die »Martinsgans«, polierte ihn sorgfältig und konnte hören, wie sich die Hausherrin leise, aber klar verständlich tausendfach bedankte.
Anna sammelte von Oiva Toikka entworfene Glasvögel, in jedem Raum der Villa stand einer. Ihr Liebling war eine Sperbereule, die wie ein Phallus geformt war und von zwei großen Augen dominiert wurde. Die Glasvögel leisteten ihr Gesellschaft, wenn sie eine Pause brauchte, manchmal waren ihr Eos und Tithonus zu anstrengend. Trotz ihrer Intelligenz verhielten sich die Kakadus wie Kinder im Vorschulalter, sie wollten pausenlos beachtet werden.
Die Verbitterung und die Verzweiflung lagen schwer auf Annas Lidern und drückten sie zu. Die Krankheit ALS hatte sie in diesem Mausoleum eingesperrt und ihr zehnJahre ihres Lebens geraubt. Die bestmöglichen Medikamente und Behandlungen hielten sie am Leben, aber sie kam nicht einmal beim Anziehen und Waschen allein zurecht. Konrad Forster organisierte alles im Haus und kümmerte sich um sie wie um ein hilfloses Kind.
Die Putzfrau legte ihr die Tablette auf die Zunge und flößte ihr den restlichen Saft ein, dabei erzählte sie ausführlich, was sie an diesem Tag alles getan hatte. Das mochte die Hausherrin.
Eine Minute vor Beginn des »Tatorts« schaltete die Putzfrau den Fernseher ein und verließ das Zimmer, als hätten sie ein stillschweigendes Übereinkommen. Anna stellte auf der Fernbedienung am Rollstuhl den Ton lauter. Zum Fernsehen brauchte man keine Kraft. Sie verfolgte meistens im Studio aufgezeichnete Fernsehserien, Talkshows und Programme zu aktuellen Themen, weil in denen nicht zuviel Natur gezeigt wurde. Sie konnte nicht einmal mehr Sendungen über Vögel ertragen.
Als die Erkennungsmelodie des Krimis verklang, schrillte das Telefon. Möglicherweise rief Konrad an, sie konnte es also nicht einfach klingeln lassen, obwohl sie das gern getan hätte. Sie hob den Hörer ab, hörte die Stimme ihres Assistenten und sagte: »Ich wollte mir gerade den ›Tatort‹ anschauen. Ich bin nicht …«
»Ich glaube, es wird dich interessieren, was ich zu berichten habe.« Forster klang müde. »Jemand kennt unseren Plan.«
»Ich habe es gewußt!« rief Anna und bat dann Konrad sogleich fortzufahren. Sie spürte eine brennende Neugier.
»Wir haben einen Gegenspieler. Irgend jemand hat in Kraków versucht, Laura Rossi zu ermorden. Ich habe die Aktien aber bekommen«, beeilte sich Forster zu versichern.
»Hat versucht zu ermorden … Was ist dort geschehen?«Durch das Adrenalin wurde Annas Stimme ein wenig kräftiger.
»Das ist das allermerkwürdigste dabei. Jemand hat den Versuch, Laura Rossi zu ermorden, zweimal verhindert, erst ganz in der Nähe meines Büros und das zweitemal vor dem Königsschloß.«
Anna dachte über das nach, was sie erfahren hatte, und die Angst trieb sie noch näher an den Abgrund, an dessen Rand sie immer zu schwanken glaubte. »Was willst du tun? Du kannst doch wohl trotzdem alles zu Ende führen?«
Forster hörte die Angst in Annas Stimme. »Ja … Der Plan geht auf, wenn Eero Ojala mir morgen seine Aktien gibt«, sagte er leise, obgleich er fürchtete, zuviel zu versprechen. Doch er wollte Anna nicht noch mehr schockieren.
»Gut. Ob ich am Leben bleibe, hängt von diesen Aktien ab. Und von dir.« Anna hörte sich verzweifelt an.
Forster spürte die schwere Last der Verantwortung. Der Streß ließ die Ader auf seiner Stirn anschwellen. Mit ihrem depressiven Gemüt würde die Hausherrin einen Mißerfolg nicht ertragen. Forster tat sein Bestes, um Anna Mut zuzusprechen, und verabschiedete sich von ihr so warmherzig, wie er konnte.
Anna hatte Angst. Die Schuld an Dietmar Berningers Schicksal nagte unaufhörlich an ihrer Seele, sie würde es nicht aushalten, auch nur einen einzigen weiteren Toten auf dem
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