Finnisches Roulette
Gewissen zu haben. Fragen schossen ihr durch den Kopf. Wer wußte von dem Plan? Konrad hatte ihr Vorhaben sicherlich nicht unbesonnen ausgeplaudert. Anna vertraute ihm – vielleicht zu sehr.
Als Anna merkte, daß sie bei dem Krimi den Faden verloren hatte, schaltete sie den Fernseher aus. Sie mußte die Entscheidungsgewalt im Unternehmen bekommen, nur so wäre gesichert, daß ein Medikament gegen ALS gefunden wurde und ihr Leben weitergehen konnte. Jacob Rosenberg,den Werner von der Johns-Hopkins-Universität geholt hatte, eine absolute Spitzenkraft, war nach zehnjähriger Forschungsarbeit dem Durchbruch schon sehr nahe: Er hatte bei ALS-Patienten einen Gendefekt gefunden, der mit der Krankheit zusammenhing, und suchte fieberhaft nach weiteren Genmutationen.
Anna spürte die lähmende Wirkung der Verzweiflung und zwang sich dazu, an ihre Träume zu denken und an jenen Satz von Dr. Klatz: »Wenn du in zehn Jahren noch lebst, kann es sein, daß du ewig leben wirst.« Sobald ein Medikament gegen ALS gefunden wäre, würde Anna festlegen, daß sich Genefab einzig und allein auf die Erforschung der Verlängerung des Lebensalters konzentrierte. Wo mochte sich das Geheimnis des ewigen Lebens befinden, überlegte sie. Vielleicht im Methusalem-Gen, im Gen Nanog oder im Gen Klutho? Oder würden die Stammzellenforschung und das Klonen von Zellen dazu führen, daß der Gralskelch entdeckt wurde? Möglicherweise war aber auch die von den Telomeren der Gene gesteuerte »Uhr« des Alterns der Schlüssel zur Ewigkeit, vielleicht würden es die Wissenschaftler lernen, die Uhr anzuhalten oder sogar die Zeiger mit den Mitteln der Gentechnik zurückzudrehen.
Die Menschen hatten über Jahrtausende in allen Winkeln der Erde vom ewigen Leben geträumt und die phantasievollsten Mittel zur Verlängerung ihres Lebens eingesetzt. Im Laufe der letzten zweihundert Jahre war es in den westlichen Ländern gelungen, das Lebensalter des Menschen um über fünfzig Jahre zu verlängern, doch erst jetzt stand man an dem Tor, hinter dem der Traum wahr wurde. Am Tor zum ewigen Leben.
Anna griff nach den Armlehnen des Rollstuhls und biß die Zähne zusammen, als sie einen Krampf im Oberschenkel spürte. Ihr Pessimismus kehrte im Handumdrehen zurück. Wenn Konrads Plan fehlschlug, wäre ihr Kampf zuEnde. Alles wäre zu Ende. Sie würde nicht auf den Tod warten. Der Schmerz überfiel Anna unerwartet mit solcher Wucht, daß sie beschloß, eine medizinische Droge zu rauchen. Sie holte aus ihrer Handtasche einen Tabakbeutel, stopfte eine Prise Thai-Stick-Marihuana in eine Pfeife und zündete sie an. Vorsichtig zog sie an der Pfeife, der Stoff wirkte erst in fünf oder zehn Minuten auf das Bewußtsein.
Annas Blick wanderte über die Portraits an der Wand, die düster vor sich hin starrten. Landschaftsbilder wollte sie in ihrem Zuhause nicht haben. Sie zwang sich, wieder in die Welt ihrer Träume zurückzukehren. Die Zukunft würde wunderbar werden. Am Anfang der Zeit hatte die Evolution die Zellen der Organismen so programmiert, daß sie sterben mußten, damit sich die Arten an die Veränderungen der Umwelt anpassen konnten. Doch bald wäre der Tod für die Anpassung nicht mehr nötig. Der Mensch würde die Evolution mit Hilfe der Gentechnologie verdrängen, die Krankheiten besiegen, das ewige Leben finden und allmächtig werden. Wenn sie doch nur den Tag erleben könnte, an dem der Mensch imstande wäre, Fähigkeiten anderer Arten zu übernehmen: Das Ultraviolett- und Infrarotsehen von den Spinnen und Schlangen, die Wahrnehmung des Magnetismus von den Vögeln und das Echolot von den Fledermäusen. Die Grenzen zwischen den Arten würden die Gentechnik nicht aufhalten.
Das Marihuana begann zu wirken. Anna fühlte sich stärker und schrak zusammen, als sich einer der Glasvögel zu bewegen schien. Plötzlich tauchten Bilder aus der Zeit auf, als alles noch in Ordnung zu sein schien. In Oberstdorf waren sie und Werner abends spazierengegangen, um zu beobachten, wie die Kühe hinter einem Hirten von der Weide ins Dorf trotteten, an der richtigen Stelle von allein die Herde verließen und in ihre Ställe liefen. Die Erinnerung ließ ihr Herz noch immer höher schlagen.
Das Thai Stick wirkte in Annas kleinem und zierlichem Körper sehr intensiv, sie spürte die Welle der Euphorie so stark wie den ersten Kuß. Nun beobachtete sie sich von außen, ihr Bewußtsein weitete sich, sie mußte lächeln, all das konnte sie ohne diese medizinische Droge nicht mehr
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