Finns Welt - 01 - Finn released
planieren.«
»Da vorne beginnt der Wald«, sage ich.
»Der Wald, in dem neulich das Reh verschwunden ist«, sagt Lukas, lacht und rennt ein Stück vor.
Im Wald stellt Flo sich noch ungeschickter an als auf dem Acker. Es ist ein richtiger Wald, kein Spaziergelände für Touristen. Hier herrscht echtes, tiefes Unterholz. Der Fuß dringt bis weit über den Knöchel in Gestrüpp aus alten Ästen und Blättern, Farn und Moos ein. Mit jedem Schritt wühlen unsere Sohlen einen anderen Geruch aus dem Boden. Mal faulig und pilzartig, mal scharf und würzig und mal angenehm wie ein Naturduftkissen. Dank unseres sieben Meter breiten Korridors können wir kleinere Büsche umlaufen, aber jetzt gerade kämpfen wir uns durch ein Geflecht, das sich wie eine Mauer zwischen den Bäumen langzieht. Die Zweige sind trocken und leicht zu brechen, aber sie schneiden in die Haut wie winzig kleine Skalpelle. Lukas und ich haben die Zweige bis eben mit großen, alten Ästen beiseitegeschlagen, aber jetzt reicht es mir und ich hole die Gartenschere aus meinem Rucksack.
»Alter, was ist das denn?«, sagt Lukas, als ich beginne, in aller Seelenruhe die Zweige abzuknipsen. »Da hat der botanisches Werkzeug dabei!«
»Ja.« Ich grinse, stecke den Kopf tiefer ins Geflecht und suche eine Stelle, aus der viele Zweige gleichzeitig rauswachsen, damit ich nicht jeden einzeln abschneiden muss. Bei den Büschen zu Hause im Garten sind solche Verzweigungen immer gut zu finden, aber hier im Wildwald wirkt es so, als hätte das Gestrüpp weder Anfang noch Ende.
»Das dauert doch ewig so«, sagt Flo und hat wahrscheinlich recht.
»Finn, die Idee war gut«, meint Lukas, »aber der Busch ist zu groß. Was du da machst, ist so, als wenn einer den Rasen vom Olympiastadion mit dem Trockenrasierer schneiden will.«
Ich grummle und stecke die Gartenschere wieder ein. »Also weiter«, sage ich, nehme wieder den Stock und schlage das Gestrüpp weg. Nach einigen Metern des Rascheins und Reißens kreischt Flo wie ein kleines Mädchen: »Aaaaaaah! Mach das weg! Mach das weg!« Was wir zu sehen bekommen, ist dies: Flo steht im Gebüsch und wischt sich panisch übers Gesicht. Zwischen Augen, Nase und Mund kleben die Reste eines Spinnennetzes. Mehrere verdorrte Fliegen- und Mückenleichen sind noch darin, wie kleine schwarze Punkte kleben sie auf Flos teigweißer Haut. Die Spinne selbst ist nicht zu sehen. »Hilfe!«, schreit er und schlägt mit den Händen um sich, weil er sie irgendwo an seinem Körper vermutet.
»Ob er die Spinne jemals finden wird?«, fragt Lukas und schaut sich das Theater mit verschränkten Armen an.
»Er könnte auch einfach systematisch suchen.«
»Oder sich ausziehen.«
»Jetzt macht was!«, quiekt Flo.
Lukas lacht sich schlapp. Ich öffne meinen Rucksack, ziehe ein Handtuch heraus, halte Flo am linken Arm fest und rubble ihm kraftvoll das Gesicht wie einem Jungen, dem die Mama Apfelmusreste aus den Mundwinkeln reibt. Dann klopfe ich ihn überall ab und laufe zweimal um ihn herum, damit er den Eindruck bekommt, ich hätte ihn sauber inspiziert.
»Alles gut«, sage ich und er beruhigt sich langsam.
»Wie geil ist das denn?« Lukas wischt sich die Lachtränen aus den Augen. »Kämpft jeden Tag mit Streitäxten und Feuerstößen gegen gigantische Bestien und im echten Wald kriegt er die Panik, weil er in ein Spinnennetz läuft!«
Flo holt Luft, um spontan etwas zu erwidern, atmet aber wieder aus, überlegt einen Moment und sagt dann viel ruhiger als sonst: »Lukas?«
»Ja?«
»Irgendwann wird uns etwas begegnen, wovor du panische Angst hast.«
Flo sagt das so langsam und beschwörend, als ob es ganz sicher geschehen wird. Als hätte er es durch seinen Satz gerade in die Welt gesprochen. Es klang gar nicht wie Flo. Es klang, als hätte jemand anders durch ihn gesprochen. Lukas schluckt, verkneift sich einen Spruch als Antwort, greift den Ast in seinen Händen fester, als könne er sonst fallen, und sagt: »Lasst uns weitergehen!«
Eine halbe Stunde lang kraxeln wir wortlos durch den Wald. Es ist gar nicht so übel, wenn man nicht redet. Man konzentriert sich mehr auf jeden Zweig und jede Senke im Boden. Man sieht plötzlich Pilze, die am Boden oder als Parasiten aus den Bäumen wachsen. Seltsame, faszinierende Farbspiele in Borken und Blättern. Schönheit.
»Es gibt hier gar keine richtigen Tiere, oder?«, bricht Lukas das Schweigen.
Ich kaue auf meiner Zunge herum. Vor uns lichtet sich ein wenig das Gestrüpp zwischen den
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