Finns Welt - 01 - Finn released
sieben Meter«, sagt er, läuft aber unbeirrt weiter. Nach einer halben Minute sind wir an der Kurve angekommen und stehen vor dem Haus.
»Wo wir gehen, ist die Mitte, richtig?«, fragt Lukas.
»Ja«, sagt Flo.
»Also dürfen wir drei Meter fünfzig nach rechts und drei fünfzig nach links?«
»Ja.«
Wir schauen uns das Haus an. So, wie wir jetzt stehen, kommt drei Meter fünfzig nach rechts einfach nur Wand. Drei fünfzig nach links ist Garten. Den können wir aber auch nicht in seiner ganzen Breite nutzen. Lukas geht dreieinhalb Schritte nach links und zeigt wieder nach vorn. »Hier ist die Außenlinie unseres Korridors«, sagt er. Eine Route durch den Garten, nur einen Meter von der linken Hauswand und den Fenstern entfernt. Mehr geht nicht.
»Dann los«, sagt Flo.
Wir klettern über den Zaun und betreten den Rasen. Mir wird mulmig im Bauch. Nicht weil wir fremden Besitz betreten, sondern weil die Wäsche nicht mehr hängt. Neulich hing sie einen Tag zu lang und jetzt sind sogar die Leinen abgebaut. Nicht mal mehr Stangen stecken in den Rasenlöchern. Es ist leer und still. Die Regentonne ist verschwunden. Das Gartenwerkzeug, das sonst an der Hauswand lehnt, auch. Mein Vater hat zwar erzählt, dass Frau Schepers mit einem Hexenschuss im Krankenhaus liegt, aber was ist, wenn es doch was Schlimmeres war? Ich weiß, wie das ist, wenn alte Frauen länger als ein paar Tage ins Krankenhaus kommen. Sie kehren nicht mehr zurück. So war es bei meiner Oma damals. Und bei meinem anderen Opa, dem Vater meiner Mutter, der ist nämlich auch schon tot, falls ich das noch nicht erwähnt habe. Und es ist immer dasselbe. Ein Erwachsener steht am Telefon, wird blass, schaut in den Raum, hält den Scheißhörer zu und sagt: »Sie haben ihn ins Krankenhaus gebracht.« Und dann weißt du schon, was das heißt, und dir wird ganz schlecht im Bauch. Und genau das fühle ich jetzt auch, weil ich weiß, was es bedeutet, wenn die Wäschestangen nicht mehr stehen. Und weil ich das nicht will. Weil der Tod so eine Sauerei ist.
»Finn, alles klar bei dir?«, fragt Flo und bevor ich antworten kann, zucken wir alle drei zusammen, da mit einem lauten Knall eine Fensterlade aufgeht.
»Hey, ihr Lümmel, was habt ihr in meinem Garten verloren?«
Ich kann gar nicht sagen, was gerade mit mir passiert. Mein Bauch ist mit einem Mal wieder leicht, ich mache einen Schritt auf das Fenster zu – in diese Richtung darf ich ja – und umarme die verwunderte Frau, als sei sie meine Oma.
»Äh …«, brummt sie und weiß gar nicht, wie ihr geschieht.
»Er mag sie«, sagt Lukas, als sei ich ein Hündchen, das an ihr hochspringt. Ich lasse sie los. Sie lächelt. Jetzt ist es egal, dass wir über ihr Grundstück gehen.
»Warte mal«, sagt sie, »du bist Finn Anders, vom Druckermeister, oder?«
»Wo sind die Wäschestangen?«, frage ich und nicke gleichzeitig.
»Die waren verrostet. Mein Sohn bringt mir neue. Nach dreißig Jahren haben die aber auch ihren Dienst getan, nicht?«
»Haben Sie neulich morgens den Rehunfall gesehen?«, fragt Flo, der übermütig wird, weil wir unser erstes Hindernis überwinden.
»Ach daher kommen die Dellen und Spritzer? Ich hatte mich schon gefragt. Ich war in der Zeit im Krankenhaus. Ich hatte schlimm’ Rücken. Jetzt kann ich wieder springen wie ein junger Hüpfer.«
»Das freut mich«, sage ich.
»Und warum …?«
»Nur eine Abkürzung«, unterbricht Lukas sie, »entschuldigen Sie vielmals, das hätten wir nicht machen sollen.«
»Ist schon okay«, sagt sie. »Besser ihr geht in der Kurve einfach geradeaus weiter, als dass mir ein Laster ins Wohnzimmer fährt, oder?«
Sie lacht.
Wir lachen mit.
Und nach ein paar Minuten sind wir schon auf dem Acker.
DIE BACHSTELZE
Das Getreide weht im Wind und kitzelt an den Beinen. Zwischen den Stängeln auf dem Feld huscht es hier und da, Feldmäuse vielleicht oder Kaninchen. Ich denke an das Reh, das wir hier angeblich gesucht haben.
»Mann!«, schimpft Flo, der beim Geradeauslaufen wankt wie ein Betrunkener. »Dieser Acker ist der volle Knochenknacker.«
Lukas dreht sich um. »Wag es nicht, mich hier wieder von hinten zu foulen!«
»Nein, ich mein ja auch nur, man kann hier voll scheiße laufen.«
Lukas lacht, legt beide Handflächen an seine Wangen, knickt mit den Beinen ein und spricht mit hoher Stimme, als wäre er eine feine Dame bei Hofe: »Ach Gottchen, da haben wir doch glatt vergessen, dem Herrn Hertl für seine Querfeldein-Mission den Weg vorher zu
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