Finns Welt - 01 - Finn released
Bäumen. Dafür senkt sich der Boden leicht nach unten und der Wind trägt ein zartes Rauschen und Plätschern an mein Ohr.
»Finn, vielleicht war deine Lügengeschichte neulich mit dem Reh doch nicht so brillant. Kann doch sein, dass das hier gar kein Revier für Tiere ist. Dann hättest du zum ersten Mal eine Story erfunden, die nicht gut war.«
»Ich habe immerhin den Förster angerufen«, werfe ich ein. »Schon vergessen?«
»Ich mein ja nur«, sagt Lukas. »Ich habe noch nicht mal einen Vogel gesehen.«
Irgendwie regt mich das auf. Meine Geschichten sind gut. Sie sind immer gut. Selbst wenn ich sie spontan erfinde, funktionieren sie. »Ich wette mit dir um 5 Euro, dass du innerhalb der nächsten Stunde mindestens einmal den Namen eines Vogels ausrufst.«
Lukas sieht mich an.
»Abgemacht?«
»Gut, abgemacht.«
Flo läuft vor, kramt in seinem Rucksack, bleibt stehen, holt etwas heraus, mit dem er sich einen Moment lang beschäftigt, steckt es wieder weg und sagt: »Leute, ich glaube, wir haben unser erstes echtes Hindernis gefunden.«
Vor uns liegt ein Bach. Das klingt nicht gerade gefährlich, aber er liegt in einem tiefen Bett und wird von zwei breiten, schrägen Ufern begrenzt. Am Fuße dieser Ufer gibt es jeweils einen großen Streifen dunkelbraunen Matschbodens. Es sieht aus, als sei ein Riese mit zwei Eimern geschmolzener Nutella durch das Bachbett gelaufen und hätte sie wie eine Markierung hingegossen.
»Das nennst du ein Hindernis, Duke von Azeroth?« Lukas schüttelt den Kopf. »Das ist doch gar nichts!« Er nimmt seinen Rucksack von der Schulter, holt aus und schleudert ihn auf die andere Seite. Dann geht er ein paar Schritte zurück, um Anlauf zu nehmen.
»Du willst springen?«, frage ich ungläubig.
»Hallo?!«, antwortet Lukas. »Ich bin Leistungssportler. Beim Weitsprung in der Schule schaffe ich vier Meter fünfzig.«
Ich taxiere den Bach und beide Uferschrägen. Die Wasserfläche ist geschätzt nur zwei Meter breit, aber würde man die Entfernung vom oberen Rand unseres Ufers zum oberen Rand des gegenüberliegenden messen, sind es sicher mehr als vier Meter fünfzig. Denke ich mir so. Sage es aber nicht. Flo hebt ganz sacht seinen Mundwinkel.
Lukas rennt los und springt so präzise ab, als sei unsere Uferseite die weiße Markierung vor der Sandgrube beim Weitsprung. Er schafft es nicht, das andere Ufer auf Höhe des Waldes zu erreichen, sondern bohrt sich mit beiden Beinen genau in die Mitte der schrägen Uferböschung. Da er dort keinen Halt hat, kullert er wie ein Igel rückwärts in den Nutella-Streifen. »Scheiße!«, ruft er, Hose, Hemd und Gesicht voller brauner Streifen und Flecken.
»Nein, bloß Matsch!«, sagt Flo und lacht Tränen. Wie kleine glitzernde Murmeln kullern sie über seine pummeligen Wangen.
»Komm bloß hier rüber, Rumpelstilzchen!«
»Mach ich auch«, entgegnet Flo. Er geht einige Schritte nach rechts. Lukas ruft: »Nur drei Meter fünfzig in eine Richtung, denk dran!«
»Ich habe die Regeln zufälligerweise selber geschrieben!« Flo bückt sich und hebt einen alten Baumstamm an, der halb verrottet auf der Uferböschung liegt. »Hilf mir mal«, sagt er und wir wuchten das Ding gemeinsam ins Wasser. Es ist gerade mal so lang, dass seine Enden im Matsch auf beiden Seiten zu liegen kommen. Balanciert man darüber und kommt aufrecht auf der anderen Seite an, könnte man trockenen Fußes den Rest der Böschung hinaufklettern. Aber eine Tatsache lässt mich zögern: Der Stamm war beim Tragen eigentlich viel zu leicht. Lukas hebt kurz die Augenbrauen. Dann steht er auf und kraxelt am anderen Ufer die drei Meter nach rechts zu seinem Ende der von Flo gebauten Brücke.
»Jetzt guckst du!«, kommentiert Flo schadenfroh. »Von wegen der Gamer kommt in der Wildnis nicht klar.«
»Dann zeig mal, was du kannst«, sagt Lukas.
Flo steigt auf den Stamm und hebt beide Arme, um sich auszubalancieren. Seinen Rucksack behält er auf, was kein Problem ist, da er kaum etwas mitgenommen hat. Das Ding klebt an seinem breiten Rücken wie ein Handtäschchen. Er schafft zwei Drittel des Weges und ist schon bei der Hälfte des Matschstreifens angekommen, als ein großes Stück aus dem morschen Holz bricht. Flo gibt einen kurzen Schrei von sich, der klingt, als sei jemand aus Versehen auf eine Kröte getreten. Dann landet er neben Lukas im braunen Brotaufstrich. Lukas gackert. Flo spuckt braunen Matsch und winzige schwarze Zweigreste aus. »Du hast am Stamm gedreht«, gurgelt er.
Weitere Kostenlose Bücher