Finns Welt - 01 - Finn released
keine Zeit zu antworten und ehe wir’s uns versehen, hockt er auf der anderen Straßenseite zwischen einem geparkten Transporter und einem Kombi. Die Gang ist nur noch ein paar Meter von uns entfernt. Wenn wir jetzt den Bürgersteig verlassen, provozieren wir sie erst recht. Flo greift instinktiv nach Lukas’ Hand, aber der zieht sie weg. Ich suche in meinem Kopf nach einer guten Geschichte, die uns das Ganze überleben lassen kann, aber ich finde keine. Die drei sind jetzt bei uns angekommen. Sie unterhalten sich. Es klingt, als würden sie vor dem Aussprechen eines Wortes darauf herumkauen und es dann ausspucken wie ein hart gekautes Kaugummi.
»Faruk von Ägypten, das war der Geilste, Alter!«
»Hörst du auf, der Geilste war Graf Philipp!«
»Ach, der schwule Graf …«
»Pass auf, was du sagst, der war nicht schwul!«
»Oktay hat recht, Alter. Philipp war der Hammer. Der hatte alles gesammelt, was es auf der Welt zu sammeln gab. Hundertzwanzigtausend Stück. Das hat keiner sonst geschafft. Nicht davor und nicht danach.«
So reden die Typen …
… und gehen einfach an uns vorbei!
Als wären wir Luft. Als wären wir überhaupt nicht da. Vertieft in ihr Gespräch schlendern sie die Straße hinab. Wir sehen ihnen nach.
Erstaunt.
Erleichtert.
»Hey!«, brüllt Jan-Eric und erscheint auf der anderen Straßenseite. Er winkt mit einer Hand, mit der rechten hat er die Kamera geschultert. Er läuft zu uns herüber. Die Gang hält an und dreht sich um.
»Hey, ihr, bleibt mal stehen!«, sagt Jan-Eric. Ist der wahnsinnig geworden? Wir können doch froh sein, dass sie uns in Ruhe gelassen haben. Er zeigt auf Oktay, den Anführer der Gruppe, und fragt: »Worüber zum Teufel habt ihr da gerade geredet?«
»Wir?« Oktay legt die Hände auf seine Brust. »Sprichst du mit mir?«
Oh nein. Jetzt geht es los. Gut, dass wenigstens keine Kante eines Pissbeckens in der Nähe ist, an der sie unsere Schädel zertrümmern können. Obwohl, es gibt ja noch den Bordstein …
»Ja, ich spreche mit dir«, sagt Jan-Eric.
»Du willst wissen, worüber wir geredet haben?« Oktay macht einen Schritt auf Jan-Eric zu.
Lukas, Flo und ich rücken zusammen wie Eichhörnchenjunge, wenn der Steinadler geflogen kommt. Wir zittern.
»Über Briefmarkensammler.«
»Was?«
»Graf Philipp hatte damals zwar alle Marken gesammelt, die es auf der Welt gab, aber Faruk von Ägypten hatte mehr Stil.« Oktays Kumpel schütteln den Kopf und wollen was sagen, aber Jan-Eric unterbricht sie. »Ihr drei seid Briefmarkensammler?«
»Das heißt korrekt eigentlich Philatelisten«, sagt Oktay. »Aber: ja.«
Lukas grinst. Flo steht der Mund offen. Die Augen Oktays wirken jetzt nicht mehr so tot. Im Gegenteil. Sie funkeln, eher amüsiert als aggressiv. Jan-Eric schaut kurz die Straße hinab, dann wieder auf die Gang. Er sagt: »Das kann doch nicht sein, dass ihr Briefmarken sammelt!«
»Warum nicht?«, fragt Oktay.
»Weil das nicht eure Aufgabe ist.«
»Was ist denn unsere Aufgabe?«
Jan-Eric wedelt mit den Händen. »Ja, was weiß ich? Eure Aufgabe ist es, hier an den Jungs vorbeizugehen und zu sagen: ›Ey, ihr Spasten, bleibt stehen und gebt uns eure Jacken!‹«
Oktay sieht uns an. Er lächelt. Mit Zahnlücke, Kinnkerbe und zusammengewachsenen Augenbrauen. »Die Jungs tragen gar keine Jacken.«
»Ja, meine Güte, dann müsstet ihr sagen: ›Ey, ihr Homos, bleibt stehen und gebt uns eure Rucksäcke!‹«
»Warum sollten wir das machen?«, fragt Oktay. Wie das aussieht, dieses Kinnkerbenlächeln …
»Ja, warum solltet ihr das machen?« Jan-Eric scheint fast zu platzen, aber er traut sich nicht zu sagen, dass diese drei Jungs nun mal einfach danach aussehen.
»Und was sind das überhaupt für Worte, die du da benutzt?«, sagt Oktay. »Spasten und Homos? Das ist diskriminierend gegenüber Behinderten und Schwulen. Das wäre so, als wenn du Kümmeltürke zu mir sagen würdest.«
»Ich …«, stammelt Jan-Eric.
Oktay sieht kurz auf Jan-Erics Kamera und zeigt dann mit dem Daumen in Richtung Innenstadt. »Sollen wir vielleicht ein paar Jacken besorgen, die wir den Jungs dann abziehen können? Wir bezahlen sie auch vorher.«
Jan-Eric sieht den türkischen, kinngekerbten Philatelisten an. »Ja. Warum eigentlich nicht?« Wir schauen unseren Filmregisseur an, als sei er völlig verrückt geworden. Jan-Eric kramt sein Portemonnaie heraus, blättert es auf und sagt: »Wie wäre es denn, wenn ich euch eine kleine Gage zahle, und dann macht ihr drei, was
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