Finns Welt - 01 - Finn released
das Publikum eigentlich von euch erwartet?«
Oktay runzelt die Stirn. Seine Augenbrauen bewegen sich dabei. Es sieht aus, als würde sich ein Frettchen nach dem Aufstehen gemütlich zusammenziehen und dann wieder strecken.
»Was braucht ihr? Fünfzig? Hundert? Dann kommt ihr noch mal die Straße runter und pöbelt meine Jungs hier schön dreckig an.«
Lukas schüttelt den Kopf, entgeistert. Flo schüttelt den Kopf, amüsiert. Ich sehe die Scheine in Jan-Erics Geldbörse und bekomme gute Laune, egal, wie das hier weitergeht. Er versteht etwas von seinem Job, auch wenn er übertreibt. Wahrscheinlich muss man das beim Fernsehen. Oktay linst in das Portemonnaie wie ein Vogel Strauß in einen Futternapf. Er hebt die Augen und fixiert Jan-Eric. Der schüttelt das Portemonnaie und grinst. Oktay wartet. Ein leichter Windstoß wirbelt seine Augenbrauen auf, das Fell des Frettchens. Ich stelle mir vor, wie es in der Sonne liegt und die sanfte Brise genießt. Als sie vorüber ist, sagt Oktay langsam und betont und ganz ohne feuchte Aussprache oder vorgekaute Vokale: »Schlechtes Benehmen kann man nicht kaufen.« Er hebt die rechte Hand, schnippt und dreht sich zu seinen Freunden um. »Kommt, Jungs, wir gehen.«
Und das machen sie dann auch.
Jan-Eric sieht ihnen nach, völlig baff, wie ein Stürmer dem Ball nachsieht, den er über das leere Tor geschossen hat. Wir schweigen eine Minute lang. Kratzen uns mit der rechten Hand an der linken. Tippen mit der Fußspitze auf den Asphalt. Räuspern uns. Nach einer Minute und zwei Sekunden sagt Flo: »Tja …« Er sagt es so leise wie eine Wespe, die mit den Füßchen fast geräuschlos auf einem Blatt landet. Lukas schmatzt. Ich atme aus. Jan-Eric rückt seine Kamera zurecht und sagt: »Dieses Land ist auch nicht mehr, was es mal war.« Dann geht er weiter. Wir folgen ihm.
DER KÄUFER
»Meine Mutter will immer, dass ich die neuen Männer Papa nenne. Nach einem Monat oder so. Aber warum soll ich das machen, wenn sie acht Wochen später sowieso wieder rausgeworfen werden?«
Seit zwei Kilometern erzählt Flo unserem Kameramann Jan-Eric von seiner Mutter und seinem Leben mit ihr. Lukas trinkt aus einer Wasserflasche und schaut die Straße hinab in die Ferne. Ich frage mich, ob man Flo bei seiner Lebensbeichte bremsen sollte, aber ich entscheide mich dagegen. Jan-Eric soll diesen Film über die Quest unbedingt machen. Nur so bekommen wir unsere Gage.
»Gab es denn mal einen, den du gern Papa genannt hast?«, fragt Jan-Eric, das Gesicht hinter seiner Kamera. Flo bekommt einen abwesenden Blick. Er sieht jetzt nicht mehr die Straße vor sich, sondern seine Vergangenheit. »Ja«, antwortet er. »Wolfgang. Den habe ich gern Papa genannt. Den hätte ich sofort behalten.«
»Und? Was ist mit ihm passiert?«
»Er hat seine Socken auf dem Wohnzimmertisch liegen lassen. Das war’s.«
»Kann echt nicht wahr sein …«, flüstert Jan-Eric vor sich hin, schüttelt den Kopf und richtet die Kamera auf Lukas. »Lukas«, sagt er, »du hast einen Papa und eine Mama, aber die Mama ist nicht deine ursprüngliche Mama und deine Geschwister sind nur Halbgeschwister. Wie schwierig ist es, in einer Patchworkfamilie zu leben?«
Lukas sieht nicht mal in die Kamera, als er antwortet: »Gar nicht schwierig. Alles in Ordnung. Außerdem hat das nichts mit der Quest zu tun.«
»Falls du später Profifußballer wirst, musst du auch Fragen zu deinem Privatleben beantworten«, sagt Jan-Eric.
»Muss ich nicht.«
»Musst du doch. Das muss jeder Prominente.«
»Ach ja? Dann erzähl mir mal, wie Frau und Kinder von Stefan Raab heißen.«
Jan-Eric schweigt und schluckt. Das war ein gutes Argument. Er richtet die Kamera auf mich. »Finn«, sagt er, »deine Eltern betreiben eine traditionelle Druckerei. Machen sie sich Sorgen um ihre Zukunft, jetzt, wo die Leute ihre Sachen alle billig im Internet drucken lassen können?«
Ich antworte nicht. An einer Hauswand hängt ein uralter roter Kaugummiautomat.
»Es muss doch schwer sein für deinen Vater«, bohrt Jan-Eric weiter.
Ich spitze die Lippen und tue so, als würde ich ihn gar nicht hören. Es geht ihn nichts an, dass meine Familie Geldprobleme hat. Nicht mal meine besten Freunde wissen davon. Es ist nicht wichtig für die Quest, da hat Lukas völlig recht. Ich trete an den roten Kaugummiautomaten heran, hole mein Portemonnaie aus der Hose, kippe Zehncentstücke in meine offene linke Hand und frage: »Wer will guten alten Automatenkaugummi? Ich gebe eine Runde
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