Finns Welt - 01 - Finn released
aus.«
Flo zeigt auf, als ob wir hier in der Schule wären. Lukas schlendert lächelnd herbei. Jan-Eric filmt, wie wir Kaugummi ziehen. Er versucht es noch mal und sagt: »So eine Druckerei ist doch wie diese Kaugummiautomaten. Da kommt alle zwei Jahre einer und leert den Geldspeicher. Öfter muss man gar nicht mehr.«
»Hmmm, lecker!«, lüge ich laut, damit Jan-Eric aufhört, in den Gelddingen meiner Eltern herumzustochern. Flo lacht. Lukas versucht sich an einer Blase. Jan-Eric lässt die Kamera sinken. »Hey, Jungs«, klagt er, »ihr müsst mir schon was geben, sonst wird das nichts mit dem Film.«
»Wir sind heute schon nackt durch einen Pool geschwommen und haben dabei eine Frau belogen«, sagt Lukas.
»Ja, und das war toll! Aber ich brauche mehr für eine gute Geschichte. Die Leute wollen euch kennenlernen. Euer Schicksal.«
Lukas pustet verächtlich Luft durch die Zähne aus. »Schicksal«, sagt er, »ist doch Schwachsinn.«
»Und außerdem«, Jan-Eric zeigt geradeaus die Straße hinab, »diese Scheißstraße geht bis zum Horizont nur geradeaus. Da kommt überhaupt kein Hindernis mehr, bis es dunkel wird.«
»Ist halt so bei der Hugenottenstraße«, sage ich.
»Wusstet ihr das?«, fragt Jan-Eric. »Als ihr die Route geplant habt?« Er zieht wieder sein iPhone aus der Tasche und öffnet die Karte.
»Wir haben die Route nicht geplant«, erklärt Lukas.
»Wir haben das Punktesystem geplant!«, sagt Flo.
Jan-Eric schaut auf den Bildschirm seines Telefons und dann wieder die Straße hinab. Er überlegt. Er legt seinen Finger ans Kinn. Dann zeigt er schräg nach links in nordwestliche Richtung. »Nach ungefähr zwanzig Hausnummern führt links eine kleine Straße von der Hugenotten ab. Ganz sanft, wie eine Weggabel. Keine krasse Kurve. Wenn wir die nehmen würden, träfen wir wieder auf Hindernisse. Ich sehe hier einen großen Hof.«
»Du willst, dass wir schummeln?«, fragt Flo entsetzt.
»Was heißt hier schon schummeln? Die Straße führt ganz sachte nach links von der eigentlichen Route weg. Das ist kein Schummeln, das ist eher eine behutsame Beugung der Regeln. Da gibt es Spielraum.«
»Bei Regeln gibt es keinen Spielraum«, sagt Lukas.
Ich spucke mein ekelhaft süßes Kaugummi wieder aus, atme durch und sage klar und deutlich: »Wir schummeln nicht.«
Jan-Eric bleibt stumm. Lukas und Flo nicken einhellig und stellen sich neben mich. »Eine Quest ist eine Quest. Wir können filmen, wir können dir meinetwegen erfundene Schicksale von uns erzählen. Aber wir schummeln nicht.«
Jan-Eric sieht uns an, die drei sturen kleinen Böcke. Er hebt den linken Arm und zeigt wieder die Straße hinab. »Aber auf der Straße passiert nichts mehr. Da gibt’s keine Action. Ihr habt doch eben gesehen, sogar die Gangster sammeln hier Briefmarken.«
»Wir schummeln nicht!«, sagen Lukas, Flo und ich synchron wie ein Chor.
Jan-Eric schultert seine Kamera und schüttelt den Kopf. »Dann weiß ich nicht, ob ich das alles verwerten kann«, seufzt er und wir gehen weiter.
Die Hugenottenstraße wirkt tatsächlich, als würde sie nie enden. Oder als wiederhole sich jedes Stück nach ein paar Hausnummern wieder, wie in der Kulisse eines Videospiels, bei dem die Designer nicht genug Zeit hatten. Sie haben zehn Häuser gemalt, Vorgärten, Kaugummiautomaten und Stromkästen. Dann haben sie den Abschnitt kopiert und immer wieder hintereinandergeklebt. Wir gehen durch eine Schleife. Wir sind Computermännchen. Vielleicht steuert uns ja jemand anders. Mein Handy klingelt. Wurde auch Zeit, denke ich mir, es ist schon Nachmittag und was hätten wir für Eltern, würden sie nicht zwischendurch mal fragen, wie es uns geht.
»Ja?«, sage ich.
»Hallo?«, fragt ein Mann, der nicht mein Vater ist. »Sind da die Maschinen?«
»Nee«, sage ich, »Anders.«
»Wie, anders?«
»Ja, Anders halt.«
»Was heißt hier anders? Sind da die Maschinen oder nicht?«
»Nee, Anders.«
»Jetzt werde ich doch bekloppt.«
»Was wollen Sie denn?«
»Ich will …« Es knistert am anderen Ende der Leitung und ich höre Schritte und ein Atmen. »Ach soooo!«, ruft der Mann. »Hier steht’s ja an der Tür. Druckerei Anders. Jetzt habe ich doch glatt Ihren Nachnamen vergessen.«
Ein Kunde? Ein Kunde für Papa, der aus Versehen mich anruft?
»Ich bin Finn. Der Sohn. Was kann ich für Sie tun?«
»Ich weiß, dass du der Sohn bist. Bei euch zu Hause war keiner und da habe ich eine Nachbarin gefragt und die hatte deine Nummer, weil du mit ihrem
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