Finns Welt - 01 - Finn released
jetzt einen auf Spielverderber macht. Er soll Jan-Eric nicht verärgern.
»Wo lügt denn hier einer?«, fragt Jan-Eric.
»Ja, du eben«, erwidert Lukas. »Mit Flos Papa fängt es schon an. Flo ist plötzlich sechs Jahre und zerrt an Papas Hemd. Was soll das? Willst du dazu auch noch eine dramatische Ballade von Kelly Clarkson einspielen?«
»Ja, sicher will ich das«, sagt Jan-Eric. »Noch nie eine Doku-Soap gesehen?«
»Das ist Lüge!«
»Ach, Lukas«, mische ich mich ein. »Was heißt hier schon Lüge? Vom Gefühl her ist es wahrscheinlich sogar wahrer als Flos wahres Leben.«
»Ja, ist ja klar, dass du das so betrachtest!«, entgegnet Lukas. »Du kannst schon gar nicht mehr unterscheiden, ob deine Geschichten wahr oder erfunden sind.«
»Aber du, du Fußballer! Ihr macht Schwalben!«
»Jetzt hört doch mal auf mit den Schwalben«, sagt Lukas. »Und selbst wenn. Am Ende haben wir gewonnen oder verloren oder unentschieden gespielt. Drei Möglichkeiten. Drei Wahrheiten. Da können wir sagen, was wir wollen. Das Ergebnis ist die Wahrheit.«
»Ja, und das Ergebnis hier soll ein Film werden, der Erfolg hat und gesendet wird. Also lass Flo bitte selbst entscheiden, ob er mit sechs Jahren in Schwarz-Weiß am Hemdzipfel seines Papas gezerrt hat oder nicht.«
Lukas winkt ab. Jan-Eric hält die Hand als Sonnenschutz über die Stirn und sieht die Straße hinab. »Ich weiß langsam sowieso nicht mehr, ob der Film was wird, wenn das so weitergeht.«
»Nein, nein«, sage ich und zupfe an Jan-Erics T-Shirt, »das ist schon okay, das mit den aufgepimpten Geschichten.«
»Das meine ich nicht, ich meine die Route.« Er guckt auf sein iPhone, auf dem Google Earth geöffnet ist. »Wir sind auf der Hugenottenstraße. Die läuft noch kilometerweit geradeaus. Da kommt überhaupt kein Hindernis.«
»Es kommt immer irgendwann ein Hindernis«, sage ich.
»Ja, und bis wir da sind, ist es Abend und zu dunkel, um vernünftig weiterzudrehen.« Ich schweige, während Jan-Eric das Bild nach oben scrollt. »Die geht bis in die nächste Stadt. Sie wird irgendwann zur Landstraße und macht immer noch keine echte Kurve.«
»Dann ist das eben der Teil der Geschichte«, sage ich. »Stundenlang schleppen sich die erschöpften Jungen dahin.«
»Oh nein, guckt mal da vorn!« Flo schluckt schwer und zeigt den Bürgersteig hinab, auf dem wir gehen. Eine Gruppe Jugendlicher kommt uns entgegen, die so aussieht, dass wir im Normalfall die Straßenseite wechseln würden. Sie sind zu dritt, ein Türke und zwei Deutsche. Die Deutschen tragen Trainingshosen und weite, ärmellose T-Shirts. Sie ziehen mit zusammengekniffenen Augen an ihren Zigaretten. Tätowierungen zieren die Unterarme und Panzerketten mit silbernen Gliedern klimpern an ihren Handgelenken. Der Türke hat eine Kerbe im Kinn und eine Lücke zwischen den Schneidezähnen. Seine Augenbrauen sind über der Nase zusammengewachsen. Seine Augen sind so kalt, als könne er jemanden totschlagen und dabei überlegen, was er gleich bei McDonald’s bestellt.
»Lass uns auf die Straße ausweichen«, sagt Lukas. Er will seinen Worten Taten folgen lassen, doch Jan-Eric packt ihn an der Schulter. »Nein! Warte!«
»Was?«
»Ihr bleibt hier!«, sagt Jan-Eric, senkt aber seine Kamera.
»Aber die sind übel, da gebe ich Flo ausnahmsweise mal recht.«
»Eben drum! Was hat Finn gerade gesagt? Es kommt immer irgendwann ein Hindernis. Er hat recht behalten. Diese Typen da sind euer Hindernis!«
»So habe ich das aber nicht gemeint«, sage ich und spüre, wie mir in der Brust heiß wird. Ich habe Angst vor solchen Menschen. Letztes Jahr sind welche dieser Sorte bei uns in die Schule eingedrungen und haben einen Jungen aus der Zehnten auf dem Klo verprügelt. Sie haben ihn gepackt und dreimal mit dem Kopf vor die Kante eines Pissbeckens gerammt, bis endlich die Lehrer kamen. Dem Mathelehrer, Herrn Hausdorff, haben sie die Nase gebrochen. Erst Herr Broich hat sie stoppen können. Es kamen zwei Krankenwagen und die Polizei.
»Ich bin doch bei euch«, sagt Jan-Eric jetzt, aber das Gefühl in meiner Brust bleibt. »Ich bin direkt da drüben.« Er dreht sich zur Seite, damit die Typen die Kamera nicht sehen, und betritt die Straße.
»Was???«, rufen wir alle drei, die Augen weit aufgerissen.
»Benehmt euch ganz natürlich«, sagt Jan-Eric. »Lasst euch ein wenig anmachen. Zeigt eure Angst. Seid Opfer. Wenn es brenzlig wird, komm ich mit der Kamera rüber. Bis dahin filme ich heimlich.«
Er lässt uns
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