Finns Welt - 02 - Finn reloaded
Flur. Am Ende der Straße stehen vier Jugendliche mit Plastikschwertern, Schildern und Umhängen und machen Fotos von Sophias Haus.
DER GESTANK
Morgen früh reist mein Opa wieder ab, an die Nordsee. Der Zug geht, wenn ich in der Schule bin. Jetzt ist es fast zehn Uhr abends und er betritt leise mein Zimmer, um sich zu verabschieden. Ich sitze vor dem Rechner, aber ich spiele nicht, wie er bestimmt denkt. Ich surfe nach Seiten, auf denen erklärt wird, wie man die Körpersprache von Menschen liest. Schlingt jemand zum Beispiel beim Sitzen die Füße um die Stuhlbeine, heißt das, dass er unsicher ist. Er sucht sozusagen Halt. Lehnt sich jemand sehr weit nach hinten zurück, während man mit ihm redet, heißt das, dass er keine Lust mehr hat zuzuhören. Er ist zu höflich, um einfach zu gehen, aber er entfernt sich schon mal unbewusst, so weit er kann. Tritt ein Opa hinter einen an den Schreibtischstuhl und legt stumm die Hände auf die Schultern seines Enkels, heißt das wahrscheinlich: Ich stehe immer hinter dir, egal, was du machst. Im positiven Sinn natürlich.
»Du willst Menschen durchschauen, nicht wahr?« Die Stimme meines Opas brummt. Das vermisse ich am meisten, wenn er nicht da ist. Mein Vater brummt zwar auch schon, aber bis er die Tonlage seines Vaters erreicht, braucht er wohl noch zwanzig Jahre.
»Das ist gut«, fährt mein Opa fort und massiert mir die Schultern. Dann dreht er sanft den Stuhl um. Ich nehme die Finger von der Tastatur und lasse es zu. Er hockt sich vor den Stuhl und legt seine großen nordischen Hände nun auf meine Oberschenkel. »Lerne zu sehen, Finn. Es kann nie schaden. Aber vergiss niemals eine Sache.«
Er macht eine Pause beim Sprechen, bevor er mir diese Sache gleich sagt. Das erzeugt Spannung und die sorgt dafür, dass ich besser zuhöre. Den Trick nutze ich ja auch schon selber. Bei Frau Kobol zum Beispiel. Aber obwohl ich ihn kenne, funktioniert er gerade. Ich bin gespannt, was Opa zu sagen hat.
Er brummt: »Vergiss niemals deine Intuition. Deinen Instinkt.« Er bildet mit den Fingern ein V und deutet auf seine Augen. »Die hier können viel erkennen. « Er macht die Hand wieder flach und legt sie auf sein Herz. »Aber das hier …« – er nimmt die Hand vom Herz und führt sie zum Bauch – »und der hier … diese beiden spüren, wenn etwas nicht stimmt. Und dieses Gefühl musst du immer beachten. Egal, ob eine Stimme in dir sagt: Es wird schon alles in Ordnung sein. Wenn du das Gefühl hast, dass etwas nicht stimmt, dann ist es meistens auch so.« Er sieht mich eindringlich an. Ich nicke. Er klatscht mit den Händen auf meine Schenkel und steht seufzend wieder auf. »Man wird nicht jünger«, sagt er und lacht. Er gibt mir einen Kuss auf die Stirn. »Pass gut auf die Erwachsenen auf«, sagt er, »sie haben Talent, aber sie sind auch alle sehr verwirrt.«
»Du bist doch auch erwachsen.«
»Ach, Finn, ich bin die alte Schule. Du bist die neue Schule. Die, die dazwischen gelandet sind, die machen es sich sehr schwer im Leben.« Ich schmunzele. Mein Opa ist schon ein Typ. Er zeigt auf den Monitor: »Du solltest lieber weniger auf einmal lesen, dann kannst du’s dir besser merken. Wenn du am Tag zu viele Infos in deinen Kopf schaufelst, ohne sie zu verdauen, kann das später Halluzinationen auslösen.«
Ich achte auf seine Körpersprache, um herauszufinden, ob er nur Quatsch erzählt oder nicht. Dann höre ich auf Herz und Bauch. Nö. Er meint das genau so.
»Schlaf gut.«
»Und dir eine gute Reise morgen.«
Er verlässt das Zimmer. Das helle Licht aus dem Flur macht ihn zum schwarzen Schattenriss in der Tür. »Ich hab dich lieb«, füge ich nach einem kurzen Moment hinzu. Es ist immer etwas uncool, das einfach so zu sagen, aber es hört uns ja niemand zu. Der Schatten in der Tür hebt die Hand und legt sie an die Schläfe, wie ein Seemann, der zum Abschied grüßt.
In der Nacht schleiche ich im Schlafanzug rüber in den Garten von Sophia und Flo. Die Luft ist lau und die Kiefern reiben im Wind ihre langen Nadeln aneinander wie fünfzigtausend kleine Finger. Sie greifen nach mir. Ich gehe zum Teich und hocke mich vor das Wasser. Von den Laternen auf der Straße zwischen unseren Häusern schwappt ein bisschen Restlicht über das Haus hinüber. Mein Gesicht spiegelt sich im Wasser, das schon wieder abgesunken ist. Im Wippen der Wellen verwandeln sich meine Augen. Die Nase wird doppelt so breit und zwei tiefe Furchen ziehen sich von ihr zu den Mundwinkeln. Mein
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