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Finster

Titel: Finster Kostenlos Bücher Online Lesen
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Leichnam noch Hinweise auf einen Mord gefunden.
    Eine andere Möglichkeit war, dass zwei Polizisten zur richtigen Brücke gefahren und von den Trollen aus dem Hinterhalt überfallen worden waren. Aber das kam mir sehr unwahrscheinlich vor. Die Einsatzzentrale hätte gewusst, wo sie hinfuhren. Wenn sie sich nicht gemeldet hätten, wäre Verstärkung hinterhergeschickt worden.
    Dann wäre es ein großes Medienspektakel geworden.
    Also, was ist wirklich passiert?, fragte ich mich.
    Ich hatte noch ein paar Stunden Zeit bis zu meinem Shakespeare-Seminar und beschloss, früher zum Campus zu gehen und mich ein wenig umzusehen.
     
    Es war ein herrlicher Oktobertag, kühl und frisch, in der Luft hing der Geruch von Holzrauch. Ich trug Jeans und Hemd, meine Yankee-Kappe und eine Sonnenbrille. Dank Kappe und Brille kam ich mir vor wie ein wandelndes Klischee. Aber immerhin verdeckten sie einen Teil meiner Verletzungen.
    Die meisten, denen ich auf dem Weg zum Campus und über den Innenhof begegnete, beachteten mich nicht: Sie eilten zu wichtigen Terminen oder schlenderten durch die Gegend und plauderten mit ihren Freunden oder waren tief in ihre eigenen Gedanken über Ruhm, Schande, Sex und so weiter versunken. Ein paar bemerkten mich und nickten mir zu. Ich nickte zurück und lächelte.
    Während ich über den Campus ging, hielt ich Ausschau nach Anzeichen für Verbreitung beunruhigender Neuigkeiten.
Ich sah lediglich das Übliche. Einige Studenten und Dozenten liefen eifrig durch die Gegend. Andere machten einen gleichgültigen Eindruck. Manche wirkten verzweifelt, andere selbstzufrieden, manche selig, andere verdrießlich, wieder andere fröhlich und zuversichtlich.
    Es schien nichts Ungewöhnliches im Gange zu sein.
    Dann lief mir Stanley Jones über den Weg. Er studierte wie ich Englisch im Hauptfach, daher hatten wir schon viele gemeinsame Seminare besucht. Ich war sogar schon einige Male in seiner Wohnung gewesen, als wir letztes Jahr zusammen an einem Referat über Edgar Allan Poe gearbeitet hatten. Er wohnte im selben Block wie Kirkus. Daher musste er die Division Street überqueren, wenn er zum Campus wollte.
    Als er sich näherte, sagte ich: »Hi, Stanley.«
    Obwohl er einen niedergeschlagenen Eindruck gemacht hatte, hob er den Kopf und lächelte, als er meine Stimme hörte. »Hallo, Ed.«
    »Wie geht’s?«
    »IDGS.« (Immer die gleiche Scheiße.) Seine Augenbrauen schossen in die Höhe. »Was ist denn mit dir passiert?«
    »Was meinst du?«
    »Hast du Prügel kassiert oder was?«
    »Mein blut’ger Kopf blieb aufrecht stehn«, zitierte ich William Ernest Henley.
    »Scheiße, Mann.«
    »Ich hatte gestern einen Unfall beim Frisbeespielen. Bin gegen einen Baum gerannt.«
    »Hat dich echt übel erwischt, Mann.«

    »Du solltest den Baum sehen.«
    Stanley lachte und schüttelte den Kopf. Dann runzelte er die Stirn. »Krass, die Sache mit Holly.«
    Das hatte ich nicht erwartet. Es fühlte sich an, als explodierte eine Bombe in meiner Brust. »Danke«, murmelte ich.
    »Wirklich zum Kotzen.«
    »Ja.«
    »Scheiße.«
    »Ja.«
    Er verzog das Gesicht. »Aber wie sagt man so schön: Man kann nicht mit ihnen leben, aber erschießen kann man sie auch nicht.«
    Ich kannte den Spruch, aber lachte trotzdem ein wenig. »Bist du sicher, was Letzteres betrifft?«, fragte ich.
    Daraufhin brach Stanley in Gelächter aus.
    »Tja«, sagte er. »Jedenfalls muss ich meinen Hintern in die Bibliothek bewegen. Wir sehen uns später, okay?«
    »Klar.«
    »Und pass auf herunterhängende Äste auf.«
    »Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen.«
    Er ging weiter.
    Krass, die Sache mit Holly.
    Danke, dass du mich daran erinnert hast, Kumpel.
    Er wollte nur nett sein, sagte ich mir. Aber das Verlustgefühl überwältigte mich für eine Weile. Es hätte noch länger angehalten, wenn nicht die Bank in meinem Blickfeld aufgetaucht wäre.
    Die Bank wurde von den Bäumen beinahe verdeckt. Es
war die Stelle, an der Eileen und ich letzte Nacht unsere Bücher abgelegt hatten, bevor wir die Böschung hinabgeklettert und unter die Brücke gegangen waren.
    Sieh kurz nach, vergewissere dich, dass wir gestern nichts vergessen haben.
    Erst schritt ich darauf zu, doch dann änderte ich meine Meinung.
    Ich muss mich benehmen wie alle anderen. Der größte Fehler wäre, Aufmerksamkeit zu erregen.
    Ich blieb auf dem Fußweg und ging weiter, als müsste ich irgendwohin. Irgendwo östlich des Campus’. Irgendwo auf der anderen Seite der Division

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